[Erst wenn die Bücherei eingerichtet ist, darf das Kind gezeugt werden]
Die Bibliothek wuchs, ebenso sein persönliches Interesse an der Sache. Die hochgeheimen Fundstücke aus der Mine lagen an einem verborgenen Ort, der nicht einmal Madame Kaltenbrunner bekannt war. Alles andere blieb auf dem Dachboden. Eine stetig wachsende Lehrbuchsammlung füllte die unteren Etagen der an der Wand befestigten Bücherregale über dem Hauptschreibtisch. Informationen nicht nur über Vermächtnis und Vorfahren der ursprünglichen Bewohner von Gwendolyn Hill, sondern auch weiteres Material über Gründung und Besiedlung der Stadt Baker: eine chronologische Studie europäischer Einwanderungsbewegungen in den Mittleren Westen; die Entwicklung der Industrie am Corn Belt; das Entstehen der Navigation auf dem Schiffahrtsweg Patokah River; die Einführung der Eisenbahn; die Landwirtschaft in der Vor- und Nachkriegszeit; die niederschmetternden Auswirkungen der Prohibition auf eine Gemeinde von Trinkern; Schmierenschauspielerei; Maisschälen; Wohltätigkeitsnähen; Erweckungspredigten; Holzsägewettbewerbe; und sogar Stammbäume von einem Gutteil der ältesten Stadtbewohner. Worauf genau er nun hinarbeitete, muß Mutmaßungen überlassen bleiben, aber die Tatsache ist unstrittig: Ford Kaltenbrunner hatte den Pöbel der Gegend wahrscheinlich besser im Blick als irgendwer sonst jemals.
Mit achtundreißig, als er und seine Frau ihr erstes Kind zeugten, stand Ford im Zenit seiner Macht.
Aus: Tristan Egolf, Monument für John Kaltenbrunner.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2000. Seite 7.
[Kurzrezension]
Provinzromane können mit ihrer Wucht, ihrem Gestank und ihrer eindimensionalen Orgiastik durchaus Weltliterarur sein, die dem Leser zu einer neuen Leseridentität verhilft. Der Roman "Monument für John Kaltenbrunner" spielt im geistig abgelegenen Industriekaff Baker, das vom Corn Belt wie von einer Gürtelrose umgeben ist. Vater Ford Kaltenbrunner hat früh das Handtuch geworfen und ist gestorben, woran man in dieser Gegend gerne Stirbt: an Bildungslosigkeit. Seine Idee, durch gewerkschaftliche Organisation etwas Struktur ins Lebn zu bringen, scheitert kläglich. Sohn John führt als Mündelkind eine erfolgreiche Geflügelfarm, ehe er von religiösen Abzockern um Hab und Gut gebracht wird. John Kaltenbrunner erfährt im zweiten Bildungsweg die Realität der Arbeitswelt und kommt schließlich still und unauffällig wieder nach Baker zurück und zur Müllabfuhr. Was seinem Vater nicht gelungen ist, gelingt ihm eher zufällig: Ein kompletter Müllstreik zur heißesten Jahreszeit verwandelt Baker endgültig in eine Kloake. Nachdem die Unruhen vorbei sind, kauft sich John noch ein paar Zigaretten und stirbt klassenbewußt unter einer Brücke mitten unter ausgedämpften Zigarettenstummeln. Dieser Roman führt gewissermaßen an beide Enden der Welt, hier werden am Morgen die Rohstoffe unter dem Einsatz stupider Arbeiter zu Waren, die am anderen Ende des Tages wieder konsumiert werden und zu grandiosem Müll mutieren. "Monument für John Kaltenbrunner" ist jener Arbeiterroman, den die Dichter des Sozialismus nie zustande gebracht haben, noch dazu ist er unterhaltsam, weil er dem Helden ein Schicksal gönnt, wenn auch ein zweifelhaftes. Und schließlich adelt der Roman die Provinzstadt Baker, wie sonst nur Thomas Pynchon und James Ellroy den Mythos L.A. adeln, als Agglomeration von Industrie, Wahnsinn und humanistischem Restmüll.
Tristan Egolf: Monument für John Kaltenbrunner. Vom Schlachten des gemästeten Kalbs und vom Aufrüsten der Aufrechten. Roman. A. d. Amerikan. von Frank Heibert.Frankfurt/M: Suhrkamp 2000. 500 Seiten. 364,- ATS. 26,53.ISBN 3-518-41181-0
[Helmuth Schönauer]