[Auch im Bibliothekswesen denkbar: Ersatzhandlungen]

So picken Tauben (Columba livia) häufig am Boden herum, wenn sie die begehrte Nahrung nicht erhalten können, obwohl sich auf dem Boden keinerlei Nahrung befindet. Sie verfallen nicht nur in dieses wahllose Pickverhalten, sondern gehen auch oft dazu über, ihre Flügel glattzustreichen; ein solches inadäquates Verhalten, das häufig in Situationen auftritt, die eine Frustration oder einen Konmflikt beinhalten, wird Ersatzhandlung genannt. Anfang 1986, kurz nachdem Bruno dreißig geworden war, begann er zu schreiben.

Aus: Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Seite 202

[Kurzrezension]

Manche Romane sind die sprichwörtliche Verengung der Sanduhr, durch die der Zeitgeist rinnen muß. Sie diskutieren die entscheidenden Theorien eines gewissen gesellschaftlichen Kulminationspunktes und entwerfen implizit oder ex kathedra Vorschläge für ein Leben nach der Lektüre des Romans. In Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" wird das Leben in Speramteilchen, Gleit- und Grundsubstanzen des Geschlechtsverkehres zerlegt. Der erste Teil spielt in der Provinz, die Halbbrüder Bruno und Michel werden durch die angewandte Sexual-Praxis ihrer Mutter vor Ort aufgeklärt. Bei Muttern schwingen die letzten Ausläufer der 68-er Bewegung aus, in deren Epizentrum einmal die Sexualtiät als konzentriertes Sinn-Gel gestanden haben mag. Der zweite Teil spielt in der Hauptstadt Paris. Zwischen Stadt und Land ist in der Sexualkität kein Unterschied. Das eher viehische Treiben am Land wird in der Stadt durch urbane Surrogate teilweise verdeckt. Sexualität in allen Lebenslagen, könnte man dieses Kapitel nennen, es gibt keine Situation, die sich nich sexuell nützen ließe. Gleichzeitig sterben die Geliebte Brunos und die gemeinsame Mutter, die Leichname werden jeweils hygienisch entsorgt. Im letzten Kapitel, das in Irland und in der nächsten Zukunft spielt, wendet sich Michel als Molekularbiologe dem Klonen zu. Er hat vom Dauereinsatz der Geschlechtsorgane buchstäblich die Nase voll und verläß sich bei der Vermehrung auf Rechenprogramme und Reagenzgläser. In die einzelnen Alltagshandlungen sind jeweils raffinierte Abhandlungen über philosophische Lebensmodelle hinein gestickt. Als Text-Kunde liest man flott und aufgeregt dahin, und schon hat man die Lehren Comtes, Delleuzes oder Lautréamonts inhaliert. Das Positive dieser elemantaren Lebenslehre liegt darin, daß man als Leser ziemlich desillusioniert eigentlich nur noch positiv von der Zukunft überrascht werden kann. Hoffentlich ist die Zukunft halb so spannend wie dieser Roman.

Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Roman. A.d.Französ. von Uli Wittmann. Köln: DuMont 1999. 356 Seiten. 321,- ATS. € 23,39. ISBN 3-7701-4879-7

Michel Houellebecq, geb. 1958 in Réunion, lebt in Paris und Irland.

[Helmuth Schönauer]