[Bibliothek eines asiatischen Rasthauses]

Nach dem Essen ging sie in das Zimmer mit den Skeletten. Sie wollte noch nicht schlafen gehen. Sie wollte nicht über den Minister nachdenken, der mit Sarath nach Bandarawela gekommen war. Die schwache Beleuchtung war nicht hell genug zum Lesen, also machte sie eine Öllampe ausfindig und zündete sie an. Früher am Tag hatte sie die Bibliothek des Rasthauses begutachtet, die aus einem Regalbrett bestand. Agatha Christie. P.G. Wodehouse. Enid Blyton. John Masters. Die üblichen Verdächtigen in jeder asiatischen Bibliothek. Die meisten dieser Autoren hatte sie als Kind oder als Teenager gelesen. Statt dessen blätterte sie in ihrer eigenen Ausgabe von Bridges’ Worl Soils. Anil kannte Bridges in- und auswendig, aber jetzt paßte sie den Text ihrer eigenen Situation an, und als sie las, spürte sie, daß sie die anderen, die vier Skelette, draußen im Dunklen zurückließ.

Aus: Michael Ondaatje, Anils Geist. München: Hanser 2000. S. 64

[Kurzrezension]

Anil Tissara ist weltweit anerkannte Gerichtsmedizinerin, die hauptsächlich nach Massakern die Spuren der Menschenrechtsverletzungen sichern soll. Ihre Lehrbücher sind Kriegsbücher aus allen Foltergegenden der Welt, ihr Blick ist seltsam unterirdisch geworden, denn sie liest aus den Knochen in der Erde ähnliche Leidensgeschichten wie der Psychiater aus dem Antlitz seiner leidenen Klienten. Der aktuelle Einsatz ist ein besonderer, denn Anil wird in ihre Heimat Sri Lanka geschickt, wo sie überprüfen soll, ob die Regierung an den Massakern beteiligt ist. Doch dieses Land ist nicht mehr jenes, das sie als Kind kennen gelernt hat. Die Gewalt hat alle Bereiche erfaßt, Arbeitskräfte werden nicht am Arbeitsmarkt rekrutiert, sondern maßgeschneidert entführt. "Es war nicht mehr zu übersehen, daß politische Gegner sich bei heimlichen Waffengeschäften die Hand reichten. - Der Grund des Krieges war Krieg."(48) Wie immer sich die einzelnen Bürger politisch entscheiden, ihre Lage ist hoffnungslos. Selbst der unter Druck gesetzte Notarzt versucht noch so etwas wie eine letzte Würde zu behalten. "Er dankte anderen für Kleinigkeiten und verlangte nichts, was er nicht dringend benötigte. Er gewöhnte sich an diese Bedürfnislosigkeit und war nicht wenig stolz darauf."(131) Je konkreter die Untersuchungsergebnisse auf eine Beteiligung der Regierung an Massakern hinweisen, desto gefährlicher wird es für Anil. Am Ende kann sie nur mit einem Kraftakt und unter Verleugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem Höllen-Paradies fliehen. Ein Selbstmordkommando sprengt den Präsidenten in die Luft, aber selbst dieses Attentat ist zwecklos, denn die Nachricht wird so lange zurückgehalten, bis sie wertlos ist. Michael Ondaatje hat einen Heimatroman der außergewöhnlichen Art geschrieben. Kann man ein Land lieben, das buchstäblich aus dem Leim gegangen und zur Hölle gefahren ist? Wie kann man in einem Land, das ständig von der Eigenbetörung bedroht ist, die Wahrheit ans Tageslicht fördern? Bringt die Üppigkeit der Vegetation nicht automatisch eine üppige Rohheit hervor, wenn einmal die Dämme gebrochen sind? - Dieser negative Reiseroman ins Paradies hinterläßt beim Leser hitzige Bedrückung

Michael Ondaatje: Anils Geist. Roman. A.d.Engl. von Melanie Walz. München: Hanser 2000. 323 Seiten. 291,- ATS. € 21,20.

Michael Ondaatje, geb. 1943 in Sri Lanka, lebt in Kanada.

Helmuth Schönauer 18/09/00