[Ein Stromausfall zwingt zum öffentlichen Lesen]
Als ich eintrat, merkte ich, daß der Strom ausgefallen war. Ich überlegte, ob ich mich beim Hausmeister beklagen sollte, doch es war schon spät und ich würde, wenn ich den Mann von seiner nächtlichen Fernsehserie wegriß, nichts als Feindseligkeit ernten. Ich machte ein paar Schritte in der Wohnung und nahm den Roman von Luís Sepúlveda vom Schreibtisch, den ich in der vergangenen Woche zu lesen angefangen hatte. Ich ging wieder auf die Straße hinunter und setzte mich auf die von einer Straßenlaterne hell beleuchtete Eingangstreppe. Nachdem ich zwanzig Seiten gelesen hatte, hörte ich Schritte innehalten. Ich blickte auf und sah Dagoberto Solís, der schwer atmete, nachdem er seinen Bauch durch die Straßen des Viertels bugsiert hatte.
"Hast du gerade eine öffentliche Bücherei aufgemacht, oder haben sie dir den Strom abgestellt?" fragte er, während er sich neben mich setzte.
Ich versuchte zu lächeln und sah ihm in die Augen. Irgend etwas darin erinnerte mich an die Angst aus alten Zeiten.
Aus:Ramón Díaz Eterovic, Engel und Einsame. Roman. Zürich: Diogenes 2000. Seite 15-16.
[Kurzrezension]
Oft ist das Dickicht einer Stadt so perfekt, daß kein Amt mehr eine Passage durch den Wildwuchs findet. Für solche Fälle sind auf der ganzen Welt die Privatdetektive zuständig, die abseits jeder bürokratischen Hierarchie mit Hartnäckigkeit, Suff und Melancholie die heikelsten Fälle lösen. Nach Santiago de Chile hat sich Heredia selbst hin stationiert, sein Büro ist die Tabaktrafik, das Aktenstudium wird wegen Lichtmangels im Haus vor der Eingangstür vorgenommen, und nur der Kater Simenon bringt einen Hauch Kontinuität in das abgerissene Leben des Detektivs. Über seine Informanten erfährt Heredia, daß seine ehemalige Freundin, eine Journalistin, im benachbarten Hotel ermordet worden ist. Eigentlich will er bloß von ihr Abschied nehmen, da wird er doch noch in den Fall hineingezogen. Denn aus den letzten Texten geht hervor, daß die Journalistin einer Waffenschieberei auf der Spur gewesen ist. Wer den Blues oder Tango hat, dem erscheint in Krisenzeiten immer ein Engel. Da Heredia auf der südlichen Halbkugel lebt, hat er den Tango und sein Engel heißt Griseta. Gerade als die Wirkung des Alkohols aus Überdruß restlos zu versagen droht, sitzt Grisata plötzlich in der Wohnung und rettet den Detektiv. Jetzt geht alles leichter, das Leben hat plötzlich wieder Fenster mit Sinn, und sollte der Fall einmal stocken, die Liebe tut es nicht. Tatsächlich stockt der Fall auch, denn niemand ist an der Lösung interessiert. "Wen interessiert dieWahrheit? Die meisten Leute sind nur an ihrer Arbeit interessiert, an der Ausbildung ihrer Kinder, an der Erholung am Wochenende oder der Möglichkeit, nach Miami zu reisen. An etwas, was mit ihnen zu tun hat, nichts , was sie verpflichtet." (323) Ein Anwalt stellt den Priatdetektiv wieder auf den Boden der chilenischen Realität. Krimis müssen nicht immer mit der kompletten Welt-Aufklärung enden, es genügt, wenn der Leser Bescheid weiß.
Ramón Díaz Eterovic: Engel und Einsame. Roman. A.d. chilen. Span. von Maralde Meyer-Minnemann. Zürich: Diogenes 2000. 330 Seiten. 291,- ATS. 21,20.
Ramón Díaz Eterovic, geb. 1956 in Punta Arenas, lebt in Santiago de Chile.
Helmuth Schönauer 11/08/00