[Lesen in der Öffentlichkeit]

Früher, als das Lesen für die Öffentlichkeit noch eine andere Bedeutung hatte, ließen sich Minister gern neben einem Berg von Akten fotografieren, die man einem Untergebenen für diesen Zweck weggenommen hatte. Nun sind solche Lügen nicht mehr nötig. Je leerer der Schreibtisch, desto tüchtiger ist der Minister. Aber ein Minister läßt sich heute auch gar nicht mehr hinter einem Schreibtisch, sondern lieber vor einem Flugzeug fotografieren oder mit Menschen, denen er die Hand schüttelt. - "Hat der denn nichts zu tun?" würden die Leute fragen, wenn sie den Minister mit einem Schreibtisch sähen.

Heiko Michael Hartmann, Unterm Bett. München, Hanser 2000. Seite 22.

[Kurzrezension]

In der Literaturgeschichte erfreut man sich gerne am delikaten Streit, ob es eine Bürokratie außerhalb Österreichs geben kann, oder ob nicht Österreich als konstituierendes Merkmal für eine totale Bürokratie anwesend sein muß. Anders formuliert: Gibt es nach Franz Kafka noch etwas Berichtenswertes von der Beamtenschaft? - Es gibt! Heiko Michael Hartmann siedelt seinen modernen Helden in einem Büroturm der Finanzaufsicht an. Seitenweise monologisiert er über den Status der Beamtenschaft zu Zeiten des Internets, denkt über Verknüpfungen bewährter Bürokratie-Achsen nach und macht sich Gedanken über bürokratische Resourcen, die noch anzuzapfen wären. Ansatzpunkt für diese Überlegungen ist das Ich selbst, das auf Erfüllung von Beamtenträumen konditioniert ist. Nicht Sinn und Zweck der Verwaltung stehen im Vordergrund, sondern die Befriedigung bürokratischer Lüste. Zu diesem Zweck macht Dominik Vogel Eigenversuche und entdeckt, daß unterm Bett der wahre Platz des Beamten ist. Sich generell unsichtbar zu machen, von der Arbeit davon zu stehlen und an einem unmöglichen Ort geheimen Lüsten zu frönen: Ein Sprung unters Bett macht es möglich! Für den Parteienverkehr, der höchsten Stufe der Beamten-Kommunikation, empfiehlt sich ein nach dem Muster John F. Kennedys formulierter Paradesatz: "Ich bin ein Beamter!" ("Ik boin ein Boiamter!") Heiko Michael Hartmann gelingt es mit dem ironischen Erzählstandpunkt des Hyper-Beamten, Innenwelt und Außenwelt unserer Gesellschaft fröhlich ins Gerede zu bringen, ohne daß die Ironie zu Lasten von sozial Ausgegrenzten ginge. Das erzählerische Okular ist dabei so weitsichtig eingestellt, daß man als Leser während der Analyse des Problems gleich eine Lösung mitdenkt, und sei es nur, daß man sich anschickt, die Bunkerstellung unterm Bett höhst persönlich zu knacken.

Heiko Michael Hartmann: Unterm Bett. Roman. München: Hanser 2000. 221 Seiten. 248,- ATS. [18,02 EUR]

Heiko Michael Hartmann, geb. 1957 in Miltenberg, lebt in Berlin.

Helmuth Schönauer 20/04/00