[Der wahre wert einer Bibliothek zeigt sich erst nach ihrer Übersiedlung. Eine verschollene Bibliothek lebt in der Erinnerung fort.]

Bei der Übersiedlung in eine ehemaliges Waisenhaus ist die Bibliothek der Familie verloren gegangen.

[...] Aber auch meine Bücher trieben sich irgendwo in der Weltgeschichte herum, und ich hatte keine Ahnung, wer sie jetzt las. Alles, was mir geblieben war, war dieses Wörterbuch und mein sorgfältig in eine alte Agenda eingetragenes Bücherverzeichnis. Auch Vaters Bücher waren mit dem Möbelwagen unterwegs, aber er sagte bloß: "Das kratzt mich nicht im geringsten, wir haben doch eine wunderbare Bibliothek im Speisesaal. Bediene dich, mein Sohn. Ich ernenne dich hiermit zum Bibliothekar der Stiftung Frohsinn. Lies soviel du magst."

Und das tat ich dann auch. Ich war nun nicht nur Hüter des Flusses, sondern auch der Bibliothek. Ich legte ein neues, umfangreiches Bücherverzeichnis an. Alphabetisch geordnet, nach Themen, Erscheinungsdatum, Autoren, standen sie mir zur Verfügung, und ich brauchte nur noch Ein- und Ausgänge in meine alte Agenda einzutragen. Ich wußte immer, wer welches Buch ausgeliehen hatte. Wen man rügen mußte, wegen Eselsohren oder beschädigten Buchrücken. Ich war der Bibliothekar. Ich war der Flußbuchhalter.

Aus: Roland Limacher, Meines Vaters Haus. Zürich: Diogenes 2000. S.16-17.

[Kurzrezension]

Ein Erfinder ist ausnahmsweise in der Literatur erfolgreich, indem er etwas so ziemlich Nebensächliches wie eine Spaghetti-Zange erfindet, mit der man die Nudeln im siedenden Wasser online auf ihre Härte testen kann. Der Sohn des Erfinders erzählt die Geschichte des Erfolgs, denn sein Vater kauft ein ehemaliges Waisenhaus in entlegener Gegend, damit die Erfindung auch ordentlich materialisiert ist. Scherzhaft beschließen die Eltern, die vielen Kinderbetten mit eigenen Kindern aufzufüllen und schon der erste Zeugungsversuch ist ein Erfolg. Der Erzähler beobachtet mit seinen pubertierenden Augen die Welt aus schrägen Winkeln. Seine Heimat ist der Fluß geworden, über den er ein Tagebuch des Strömens und der fortgetriebenen Gegenstände anlegt. Einmal schwimmt eine weibliche Leiche mit gespreizten Beinen vorbei, aber das kann auch eine hormon-bedingte Fata Morgana gewesen sein. Im Laufe der Zeit kommen allerhand seltsame Figuren am Waisenhaus vorbei und nehmen darin spontan Quartier. Roland Limachers Erzählung "Meines Vaters Haus" ist eine ironische Auseinandersetzung mit Erfolg und Ausstieg aus der Gesellschaft. Der Erzählstandpunkt des jugendlichen Fluß-Schwärmers ermöglicht einen fließenden Übergang von scheinbar realem und offensichtlich irrealem Dahinströmen der Dinge. "Meines Vaters Haus" ist außerdem ein Zitat aus einem Gedicht Werner Bergengruens. Dieses zitierte Gedicht und die dramatischen Phantasien des Erzählers wuchern schließlich beim Weihnachtsfest zu einem luziden Ort aus, an dem Wünsche stracks in Erfüllung gehen. "Meines Vaters Haus" ist eine märchenhaft luftige Erzählung, in der die Welt der Kindheit und jene der Erwachsenen nahtlos ineinander übergreifen.

Roland Limacher: Meines Vaters Haus. Erzählung. Zürich: Diogenes 2000. 138 Seiten. 218,- ATS. [15,84 EUR].

Roland Limacher, geb. 1958, lebt in Luzern.

Helmuth Schönauer