[Der Bibliothekar als homo-erotisches Traumbild]

Heute, bevor er zum Abendessen heraufkam, hatte ich mir überlegt, wie das Gespräch verlaufen würde, zuerst Fachsimpeleien, die der gemeinsame Beruf von ihm und meinem Vater mit sich brachte, dann Erinnerungen aus der Zeit in diesem Haus, nach und nach würde er deutlicher auf das vermeintliche Hauptproblem zu sprechen kommen, das auch früher an vielen Abenden Thema war. Aber was in aller Welt sollte ich zu seiner Einsamkeit sagen, seinem Katzenjammer über die Männer, den Mann, oder besser deren Abwesenheit, es gab in Wirklichkeit niemanden, nur wechselnde Flüchtigkeiten und seine wiederholten Versuche, doch jemanden zu finden. Bevor ich endgültig ausgezogen war, hatte ich das Drama um den jungen Bibliothekar miterlebt, der für einen Monat bei den

beiden Mitbewohnern im oberen Stock einquartiert war, weil er sein Wohnung renovierte. Es war schmerzhaft gewesen, mitanzusehen, wie er ihn vergeblich umwarb und zuletzt sogar soweit den Kopf verlor, daß er ihm eines Morgens seine Schreibmaschine aus dem Fenster in den Garten warf und sich hinunterstürzen wollte, was im nachhinein wie ein Witz klingt, aber ich weiß nicht, ob er nicht tatsächlich nachgesprungen wäre, wenn wir ihn nicht mit aller Gewalt ins Zimmer zurückgezerrt hätten. Er verkroch sich dann tagelang im Bett, ging nur mehr zur Arbeit aus dem Haus und vermied es, uns ins Gesicht zu sehen oder überhaupt nur in den Garten zu kommen, als die Abende besonders lau waren und wir draußen aßen. Der Bibliothekar war kaum verschwunden, als er eines Tages mit einem Taxifahrer nach Hause kam, der von da an eine Zeitlang jeden Morgen nach Dienstschluß zum Frühstück bei uns vorbeischaute, bis er plötzlich ein Mädchen mitbrachte, das er demonstrativ umarmt hielt, danach tauchte er nicht mehr auf, und unser Freund war wieder mit seinen Träumen allein. Nach einem Monat hatte er endlich aufgegeben, auf den Taxifahrer zu warten, bemühte sich auch nicht mehr, ihn am Telefon oder mit Briefen zu erreichen, nahm sich Urlaub und verschwand zu einer Bekannten nach Deutschland, zur Erholung, wie er sagte, von wo er nach ein paar Tagen betreten zurückkehrte. [S. 12-13]

Melitta Breznik: Figuren. Erzählungen. München: Luchterhand 1999. 119 Seiten. ISBN 3-630-86993-9

n, ist Professor für Mathematik an der Universität Paris.

Helmuth Schönauer