STICHPUNKT 20|12
Zugeschaltete Berge
Da die Saisongefährtin des berühmten Everestlers aus Luxemburg stammt, kann der hyper-mobile Reinhard Messner während des kontinentalen Komas nicht über den Brenner nach Bozen. Er sitzt quaratinös in seiner Münchner Viertwohnung fest. | Von dort aus bestreicht er alle Redaktionen im Homeoffice und tritt auch fallweise in einer sogenannten Schalte auf. | Jeden Tag sieht man seine ewige Story auf einem anderen Kanal. Es gibt schon Internetwetten, mit denen man darauf setzen kann, in welchem Sender er wann auftreten wird. | Die Leute interessiert nur sein permanenter Auftritt, nicht aber sei Inhalt, deshalb muss er jeden Tag woanders auftreten, um glaubwürdig zu bleiben. | In einer Nebenschalte wird erklärt, dass die Vereine Angst haben, die Leute könnten sich sich neue Sportarten suchen, wenn nicht bald die Sportstätten aufgingen. Und die Dichter hätten Angst, dass sich die Leser neue Medien suchten, wenn noch längere Zeit keine frischen Krimis herauskämen. | Niemand nämlich bleibt seinen Gepflogenheiten treu, wenn diese nicht ununterbrochen zur Verfügung stehen. Alle Hobbys und Künste sind letztlich Ausdruck eines Geschäftes, das nur funktioniert, wenn es täglich abgewickelt wird. Wegen der Moral bleibt niemand einer Neigung treu, was sich nicht konsumieren lässt, muss entsorgt werden. | Auch Reinhold Messner steht vor dem Dilemma, dass sich bald niemand mehr um seine Erfolge kümmern wird, wenn nicht bald wieder seine Museen aufgehen, worin man ihn bestaunen kann. Er bettelt in jeder Sendung wie verrückt um Touristen, weil es sonst still wird in den Schautempeln, in denen angeblich die Stille der Berge ausgestellt wird. Auch für den Berg-Mediator gilt: Geschäfte machen Lärm, selbst wenn sie mit der Stille handeln. | Nach der Schalte mit Messner ist es jedes mal besonders still im Kanal.
Helmuth Schönauer 04/05/20
STICHPUNKT 20|08
Kriegsmatura
Wenn im vorigen Jahrhundert eine sogenannte Flasche an entscheidender Stelle in einem Amt gesessen ist, hat man sich unter der Hand die Glücksformel zugehaucht: „Der hat die Kriegsmatura!“ | Tatsächlich ist in den Nachkriegswirren so manches Maturazeugnis verlorengegangen, Schulen, an denen jemand gebüffelt haben wollte, waren bombardiert, Zeitzeugen ermordet, der frühere Lehrstoff für obsolet erklärt. | So streunten ein paar männliche Jahrgänge durch die ebenfalls verwaisten Ämter und hockten sich hinein, wenn der Sessel passte, oder zimmerten einen neuen. Was immer diese Kohorten auch von sich gaben, eines war gewiss, sie hatten unbändigen Lebenswillen und die Fähigkeit, aus jeder Situation das beste zu machen. | Aus dem abschätzigen Begriff Kriegsmatura wurde bald einmal eine Art Adelstitel. Denn wer imstande ist, seine Matura zu faken, der kriegt auch das übrige Leben hin. | Heuer steht wieder eine Kriegsmatura am Programm. Diesmal wird sie freilich nicht von den Kids organisiert, die dazu nicht imstande wären, sondern von der Bildungsbehörde, die allen eine bestandene Matura zuteilt. Im Fachjargon spricht man von Helikopter-Matura, weil die Aspiranten flächendeckend von oben her besprüht werden. | In ein paar Jahren wird kein Mensch mehr danach fragen, ob diese Matura auch echt ist. Alle werden auf eine Uni geströmt sein und von einem Multiple-Choice-Programm ausgebildet sein für das, was man in einer Zeit permanenter Notmaßnahmen brauchen wird. | Und wenn alles nichts hilft, wird man eben Matura-Roboter in die Klassen hocken und jene Prüfungsfragen abarbeiten lassen, welche von den Zentralrobotern in einem Ministerium mit künstlicher Intelligenz formuliert worden sind.
Helmuth Schönauer 14/04/20
STICHPUNKT 20|07
Drei Wappentiere krähen um die Wette
In der Provinz gibt es für alle Berufszweige einen Innungsmeister, der die oberste Meinung der Sparte vertritt. Ähnlich einem Wappentier auf einem mittelalterlichen Schild kräht er seine Botschaften heraus, die dann als gültige Meinung gilt. (Fürs Gendern gibt es übrigens eine eigene Innungsmeisterin!) | Eine besonders seltsame Form der Meinungsmache geht von den jeweiligen Leithammeln in Krisenzeiten aus. Da diese Wappentiere ja nur dafür gedacht sind, der Huldigung der Einheitspartei zu dienen, geraten sie in die Krise, wenn diese in die Krise gerät. | Anlässlich der neuen Zeitrechnung „v. C und n. C“ (vor und nach Corona) stehen auch die Leithammel vor dem Problem, dass man ihnen nicht mehr so alles glaubt wie früher. Dabei entwickeln manche erstaunliche Hellsichtigkeit, während andere in den tiefsten Jedermann zurückfallen. | Tobias Moretti ist als der berühmteste Schauspieler des Landes immer alles, was den Tiroler Adler beflügeln könnte. Mal fährt er mit seinem Bruder in Lausbubenmanier mit der Geländemaschine durch Naturschutzreservate in allen Kontinenten, mal gibt er den Tiroler Adler höchst persönlich, indem er unter den Bart von Andreas Hofer schlüpft, dann wieder macht er unsterbliche Posen als Jedermann, ehe er in Talkshows erklärt, dass die Schauspielerei ein ernster Beruf ist. Politisch äußert er sich nur insofern, als er für Ehrungen seine Brust zur Verfügung stellt und alles für gut findet, was der jeweilige Landesvater so macht. Sein Beitrag zur Coronakrise mündet denn auch in Floskeln wie Zammhalten und Solidarität. Die Feinde nämlich fallen wieder einmal über das Tiroler-Landl her und zerstören seinen Tourismus. | Dem Zammhalten-Appell widerspricht Markus Koschuh vorsichtig vehement, immerhin kräht er mit seiner Replik ja eine Adler-Ikone an. „Siehst du die Nebelgranaten nicht?“ ruft er dem Moretti zu, der im Film am liebsten durch Nebel reitet oder jettet. Jetzt wäre nämlich die Zeit gekommen, ein paar Sachen im Land zu ändern, statt nur die Sachen zammzuhalten. Eine fundamentale Kritik müsse in einer kritischen Zeit passieren, denn in der Gaudi-Zeit hat niemand Zeit für Kritik. | Als erster ist übrigens Peter Plaikner in den Diskurs galoppiert mit einer fundamentalen Analyse der Tiroler Ballermann-Szene. Wenn sich jetzt nichts tut, dann kann man das Land wohl endgültig abschreiben und sagenhafte Marionetten und Morettis weiterwerkeln lassen. Seine Analyse klingt sehr plausibel, allein die Position des Formulierenden lässt die Handbremse angezogen. Peter Plaikner hat jahrelang in jenem Einheitsblatt, das Demokratie mit hartem T wie Tourismus schreibt, gewerkelt und den Ton mit angegeben. Es wäre für alle schön, wenn er im Alter wirklich zu eigenen Gedanken gekommen wäre. | Alle diese Wappentiere haben einen handfesten Grund, warum sie jetzt so tun müssen, als ob sie nachdächten. Ihr Publikum sitzt auf den Balkonen in Quarantäne und hat das nächste Jahr lang keine Lust, in eine Massenveranstaltung zu gehen, wo ihnen jemand gegen Eintritt die Moral erklärt.
Helmuth Schönauer 04/04/20
STICHPUNKT 20|06
Konviktskaktus
J. H. gilt nach weitverbreiteter Ansicht als der humorloseste Dichter Österreichs. Das ist insofern interessant, weil dieser Autor immer wieder an der Uni literarische Ästhetik lehrt und so an der Verbreitung der These arbeitet, wonach ein Dichter umso tiefer wirkt, je ernst-triefender er schreibt. | Er selbst ist an manchen Tagen froh, dass seine Initialen in der richtigen Reihenfolge aufgezählt sind, denn sein eigenes Schreibprogramm widmet sich dem Kampf gegen den Faschismus und der Implementierung des literarischen Realismus in Österreich. | Zu den Höhepunkten dieses Realismus gehört sicher eine Beschreibung des Vorderradantriebs für einen PKW in der winterlichen Landschaft von Zwettl. | Immer wieder nützt er die sogenannte Realität, um ein autobiographisch schwermütiges Schicksal zu generieren. Beeindrucken ist seine Schilderung des Tsunami in Thailand, bei dem er ein (Finger-) Glied verloren hat. | Ein Leben lang freilich quält ihn die Schändung im Kloster Zwettl, mit der er ein Leben lang nicht zurecht kommt. Bereits beim Konviktskaktus bricht dieses Desaster unter der Kutte auf, aber die frühe Erzählsammlung wird meist als halb-lustiges Episoden-Set abgetan, wobei man im Kaktus entweder eine geheimnisvolle Ausscheidung oder eine stark befestigtes Geschlechtsorgan herausliest. | Und jetzt, wo alle Schänder gestorben sind, kommt es zum Showdown der Realität. Im Buch „Mein Fall“ (2020) wird realistisch aufgezeichnet, was sich in den frühen 1960ern in einem Waldviertler Kloster abgespielt hat. | Das Schicksal ist bedauerlich, das Timing der Aufklärung aber interessant. Längst nämlich bedeutet Realismus in der Literatur, dass die Zeit reif für ein Geschäft ist. Jetzt, wo die Nazizeit so gut wie aufgearbeitet ist, kann man sich um die subkutanen Kinderschänder kümmern, die nicht mehr beißen, weil sie ja schon gestorben sind. | Realität und Österreich, das ist immer noch diese süffisante Heimito-von-Doderer-Stimmung, wo jemand im Kaffeehaus seine Melange rührt und zuschaut, wie draußen die Straßenbahn einer Frau den Oberschenkel abfährt. | Und während man so die Fußgängerzone hinunterschaut, sprießen überall Konviktskaktusse hervor, das ist Österreich im beschaulichen Realismus.
Helmuth Schönauer 03/04/20
STICHPUNKT 20|05
Lebensretter auf der Maschin
Wenn man dem Kapitalismus Glauben schenkt, so ist nichts auf der Welt sinnlos, weil überall ein Geschäft dahintersteckt. Sollte etwas auf Anhieb ziemlich pervers daherkommen, muss man eben über Umwege und Umwegrentabilität zum wahren Kern des Unsinns vorstoßen. Ziemlich sinnlos erscheint auf den ersten Blick der Motorradkult. Sexuell unausgeglichene Männer stecken sich in Domina-Kluft und bezwingen die Landschaft mit Motorrädern. Manchmal fallen sie in Rudeln über eine Talschaft her, dann wieder als Kleingruppe, die sich Windschattenrennen liefert. | Das Ziel dieser Reisen ist das Nichts, weshalb die Reiserouten geheimnisvollen Moebiusschleifen gleichen, die in sich selbst enden und ewig sind. | Da diese Landschaftsaktivisten nichts mitführen außer sich selbst und eine Scheckkarte, sind sie überall gerne gesehen, denn sie konsumieren in einem fort, wenn sie nicht gerade Gas geben und die Maschine Sprit konsumieren lassen. | Für die Einheimischen an der Strecke freilich sind diese Rudel unerträglich, deshalb muss die Umwegrentabilität herhalten, damit die Anrainer nicht zur Mistgabel aus dem Gartencenter greifen und die Lederjacken abstechen, während sie am Gasgriff spielen. | Als oberstes Umweg-Argument galt bisher die große Lust der Freizeit-Fuzzis, Organe zu spenden. Tatsächlich wurden Transplantationskliniken unter dem Aspekt errichtet, dass gute Motorrad-Routen daran vorbeiführen. | In der Corona-Krise kommt jetzt noch das Argument der Intensivbetten hinzu. Weil eben jedes Wochenende so viele Racer verunglücken und ein Koma ansteuern, werden im Land überdurchschnittlich viele Intensivbetten vorgehalten, was jetzt den Virus-Patienten zugute kommt. | Das Land ist Durchrasern sehr dankbar, dass sie so tapfer verunglücken, was jetzt der Bevölkerung zugute kommt. Die Lebensretter sitzen eben oft auch auf der Maschin. | Nach dem Coronadesaster wird alles weitergehen wie früher. Vor dem Corona ist nach dem Corona, heißt es im Kapitalismus. Vielleicht könnte man aber beim Hochfahren des Motorradkultes eine kleine Klimaschikane einbauen. Wie wäre es, wenn man durch das Erholungsgebiet Hahntennjoch in Zukunft nur mehr elektrisch fahren dürfte? Der Lärm bliebe weg, die Spenderorgane blieben da.
Helmuth Schönauer 02/04/20
STICHPUNKT 20|04
Unfähige Pistoleros
Jedes Jahr warten wir, dass sich der frisch ausgerufene Kleist-Preisträger in den Kopf schießt. Wir haben nämlich gelernt, dass der Dichter Heinrich von Kleist sehr depressiv und ordnungsliebend gewesen sein soll, weshalb er sich eines Tages am Wannsee sitzend mit seiner Geliebten aus dem Leben entfernt hat. | An einer anderen Stelle der Literaturgeschichte haben wir gelernt, dass ein Preis nur jenem Dichter zugesprochen wird, der die Haupteigenschaft dieses Namensgebers erfüllt. | Im Falle von Kleist wäre es das Mindeste, dass sich der Preisträger eine Pistole zulegt und nach einem angemessenen Interview in einer Videobotschaft exekutiert. | Aber die Literatur hat eben nicht mehr die Qualität jener Dichter, nach denen sie ihre Preise benennt. Kein einziger Namensspender hätte übrigens einen Preis angenommen, der schwülstig seinen eigenen Namen getragen hätte. Man stelle sich vor, Kafka hätte den Kafka-Preis überreicht bekommen. | Ähnliches gilt für Ingeborg Bachmann, die wohl in Dauererregung im Grabe rotiert, wenn sie dem Treiben rund um ihren Bachmann-Preis zusehen muss. Längst abfällig als Wettlesen beschrieben sitzen sich dabei aufgeplusterte Juroren und niedergebügelte Dichter gegendert und schwitzend in Klagenfurt gegenüber. | Heuer hat es einmal ganz gut ausgesehen, dass man den Bachmannpreis wenigstens ein Jahr lang als Antivirenmaßnahme aussetzen könnte. Aber nichts da. Die Juroren sahen sich um ihre Auftrittsgelder geprellt und forderten wie im Fußball Geisterspiele, um in der Tabelle nicht abzurutschen. | Nach dem Virus wird vieles anders sein, hoffen viele auch in der Literatur. Vielleicht platzt dieses Event-Ding endlich, das mit Literatur nichts zu tun hat. Preise, Juroren, Pressemitteilungen für niemanden – alles kann auslaufen, ohne dass die Literatur leiden würde. Und wo ist ein Kleist, der sich mitsamt dem Kleistpreis aus dem Leben nimmt?
Helmuth Schönauer 31/03/20
STICHPUNKT 20|03
Lesen, Schreiben und Sich-Benehmen
Die Wahrheit muss täglich versteckt werden, sonst lässt sich der aktuelle Gesellschaftsbetrieb nicht aufrechterhalten. So dienen Kinder letztlich nur dazu, die Wirtschaft anzukurbeln und zu stützen, obwohl man sie in der Öffentlichkeit als Schatzkästlein und Lebenssinn bezeichnet. Kinder konsumieren heutzutage mehr als Senioren, allein was so ein Kind an Betreuung, Aufsicht, Psychologen und Sozialarbeiter verzehrt, kann sich durchaus mit dem Aufwand für die Alten beim Sterben vergleichen lassen. | In Wahrheit sind die Kinder die größten Arbeitsplatzsicherer für jene, die nach einem Studium nicht wissen, was tun. Längst sind die Schulen eine post-universitäre Spielwiese geworden, auf der jeder Berufszweig die Infantilisierung seines Wissens ausprobieren darf. | Sogenannte Projekte sollen das Schulpersonal bei Laune halten und den Kids Abwechslung beim monotonen Unterricht auf den diversen Displays verschaffen. Dabei sind die Themen Modeerscheinungen, die von Influencern an die Schule getragen werden. Superbeispiel ist etwa ein Projekte, bei dem Volksschulkids erfahren, wie das Zusammenleben von schwulen Eltern in einer Lesben-feindlichen Gesellschaft funktionieren könnte. Vor den Augen der Kids, die weder lesen, schreiben noch sprechen können, werden Rollenspiele für ein interessantes Zusammenleben entwickelt. Die Unterhaltung beim Lehrpersonal ist dementsprechend groß, das fade Interesse der Kids ebenso. | Immer öfter wird der Ruf nach der Kernkompetenz der Grundschule laut. Die Kids sollen in dieser Phase lesen, schreiben und sich benehmen lernen. Rechnen ist nicht so erwünscht, denn man braucht Zahlen-befreites Agieren, wenn später der Konsum einsetzen soll. | Es gibt bereits Privatschulen, die mit dem Minimalismus des Lernens werben und volle Häuser haben. In diesen Schulen erwerben die Kids verlässlich die Kompetenzen Lesen, Schreiben und Sich-benehmen, alles andere kann später mit Apps heruntergeladen werden. | Die Idee ist bestechend einfach: Man lässt in der Grundstufe alles weg, was über den Grunderwerb der Sprache hinausgeht. Das Modell erinnert entfernt an eine straffe Klosterschule, die zu einer einzigen Selbstfindung für die Lernkundschaft wird. | In der Praxis kommt bei diesem Schultypus freilich Langeweile auf und die Kids beginnen wieder früh zu onanieren und sich gegenseitig zu schänden. Die klassische Klosterschule hat da leider Übles hervorgebracht und den Schulmarkt für Generationen versaut. | Vermutlich müsste man im digitalen Zeitalter einfach gutes Benehmen trainieren und die Kids wären tauglich für jene letzte Welt, in der sich der Weltuntergang mit einem flotten Knigge bestens bewerkstelligen lässt.
Helmuth Schönauer 19/02/20
STICHPUNKT 20|02
Entstörung von Straßenschildern
Nichts ist so schnell vergessen wie der Namensspender jener Straße, in der man wohnt. Die Straßennamen sind für die Bewohner ja geradezu zu Gattungsnamen geworden, und wie niemand darüber nachdenkt, warum er zu seinem Handy Handy sagt, denkt auch niemand aus dem Mitterweg nach, warum er zu seiner Wohnadresse Mitterweg sagt. | Außenstehende freilich googeln meist die Straßennamen, in der Hauptsache, um nachzusehen, ob nicht ein unbekannter Nazi dahintersteckt. Zwei Generationen von Zeithistorikern und Zeitzeugen haben nämlich gelernt, dass zur Nazizeit alles mit Nazinamen unterlegt worden ist. Die schweren Fälle sind in den siebziger Jahren entstört worden, die leichteren Fälle werden beim jährlichen Reinemachen für die Jungbürgerfeier aufgefrischt, debattiert, und fallweise mit einer Ergänzungstafel versehen. | Dieses Reinemachen findet bei jedem Epochenwechsel statt, freilich vergisst man zwischendurch immer wieder jemanden, wie etwa den Feldherrn Conrad von Hötzendorf aus dem Ersten Weltkrieg, nach dem immer noch Kasernen, Straßen und Kreisverkehre benannt sind. | Für die künftigen Generationen stehen naturgemäß wieder Entstörungen auf dem Programm. Namen, die heute noch selbstverständlich klingen, werden dereinst verpönt sein und ausgetauscht werden müssen. Vermutlich wird es alle erwischen, die etwas mit dem Auto, Verbrennungsmotor oder Selbstzünder zu tun haben. Siemens, Diesel, Valier oder Porsche wird man von den Hauswänden herunterschrauben und pfui sagen. | Aber auch indirekte Weltzerstörer wie jenen österreichischen Heroen, der wechselweise als Formel-1-Rennfahrer und Airline-Inhaber das Klima im Alleingang zerstört hat, wird man mit einem Pfui bedenken, während man aus den Dosen jenes Rennstallbesitzers mit den Flügeln noch längere Zeit schlürfen wird. | Ein furchtbarer Verdacht tut sich auf: Wie nun, wenn alle zu Verbrechern werden müssen, weil man sonst auf keine Ehrentafel kommt? Und wird man nach dem unglücklichen Handke noch eine Straße benennen dürfen, wenn man schon jetzt weiß, dass er seine Füllfeder in einen seltsamen Letten getunkt hat? | Vielleicht sollte man einfach alle dreißig Jahre ein Drittel der Straßennamen austauschen, dann hätte man immer saubere Ortsangaben am Navi.
Helmuth Schönauer 17/02/20
STICHPUNKT 20|01
Das lyrische Geschlecht
Männlich und weiblich mögen zwar bei der Reproduktion der Menschheit eine gewisse Rolle spielen, wenn etwa beide auf einer Insel ausgesetzt sind und nichts zur Hand haben, außer den eigenen Genitalien, mit denen sie zukunftsträchtig herumfuhrwerken. | Sobald aber die Zivilisation in Reichweite ist, sind männlich und weiblich lästige Attribute, die sich in jeden Satz hineinschleichen. | Jedes Lebewesen ist hinter einem Vorhang des Geschlechtes versteckt, hinter dem diese Wesen mit überdimensionierten Genitalien herumlungern oder einen Kapitaleinsatz wagen. | Wann immer ein sogenannter Mann oder eine sogenannte Frau auftauchen, tun sie in einer kapitalistischen Gesellschaft nichts anderes, als sich in Gestalt von Geld zu reproduzieren. Da mittlerweile beide Geschlechter durchkapitalisiert sind, müssen alle Tätigkeiten durchgegendert werden. Es macht nämlich einen Unterschied, ob jemand als Mann oder Frau Kinder unterrichtet, auf die Straße geht oder ein Auto lenkt. | Seit alles gegendert ist, dauern die Sätze länger, was die Menschen früher in ihrer Aufmerksamkeit abschalten lässt. Und tatsächlich, beim primitiven Satzbau der gesprochenen Sprechfetzen ist es egal, an welcher Stelle man aussteigt. | In der Praxis ist die Sprache nämlich eine höchst pragmatische Tante. Sobald in einem Satz die handelnden Personen richtig gegendert sind, steigen Zuhörer und Sprecher quasi an der gleichen Stelle aus. | Nur noch ganz selten bleibt Aufmerksamkeit gefragt, wenn es nämlich um das dritte Geschlecht geht. Nicht nur am WC machen diese Un-Geschlechter Probleme beim Pissen, es beginnt schon bei der richtigen Anrede. Wie nenne ich jemanden, der weder Peter noch Petra heißt? | Eltern verstümmeln sich regelmäßig am eigenen Genital, wenn ihnen ein Kind des dritten Geschlechts auf die Welt kommt. Das darf uns nie mehr passieren! – Aber wie nennen wir unser Ding jetzt? | Versteckt gibt es Apps, mit denen man sich frische Vornamen für das dritte Geschlecht herunterladen kann. Momentane Spitzenreiter sind Divum, Nuttum, Zipfla und Ubuntu. | In manchen Gegenden mit starker Mundart passt sich auch die Sprache diesem dritten Geschlecht an. So wird im Kärntnerischen statt des früheren Togga durchwegs Tuttlum gerufen, wenn jemand eine besonders schwache Tagesform im Kopf hat. | Einzig die ewige Dichtung ist über all das erhaben. Schon seit Jahrhunderten sind die Gedichte unsterblich, weil sie sich an das lyrische Geschlecht halten.
Helmuth Schönauer 16/02/20