Das ganze Glück

Meistens setzt die Liebe mit einem solchen Knall ein, daß den Beteiligten Hören und Sehen vergeht. Nach einer gewissen Anlaufzeit fragen sich die Protagonisten jedoch oft, wie ist es zu dieser plötzlichen Liebe gekommen ist.

Manchmal sind die Gefühlsexplosionen sogar so kurz, daß eine Reflexion darüber gar nicht möglich ist.

In Sybille Mulots Liebesgeschichte "Das ganze Glück" erhitzen sich zwei Studenten an der Uni Wien für einander. Mitten aus dem Buchstabenhaufen der Bibliothek entsteht etwas wie Sinn und offensichtlich ohne die übliche Konversation an der Oberfläche. Farraghani ist Perser, Sandra ist Deutsche, aber die kulturellen Unterschiede spielen keine Rolle.

Zum vollkommenen Glück fehlt den beiden eine passende Sprache, und siehe, sie finden sie in den Orakeln des Hafis. Einerseits sind die Orakel völlig unsichtbar in Tabellen versteckt, andererseits sind die Botschaften von vollkommener Klarheit, jedes Orakel scheint nur für den einmaligen Gebrauch gerade jetzt in der Stunde der Enträtselung geschaffen zu sein.

Als Leser wird man unrettbar in den Strudel der Liebenden gezogen, ihre Empfindsamkeiten und Sorgen, wie wohl die Realität zu deuten ist, übertragen sich auf den Leser. Im Anhang ist zudem ein ausführliches Hafis-Orakel abgedruckt, wo man sich als Leser sein spezielles Schicksal "herunterladen" kann.

Natürlich geht auch diese Liebe wieder vorbei. Beide aber wissen, daß so eine Liebe nie mehr kommen wird.

"Vielleicht haben wir nur einmal im Leben das Glück, den Menschen zu finden, der dem geheimnisvollen Bruder oder der Schwester in uns entspricht. Dann muß es sein wie Nachhausekommen." (130)

Sibylle Mulots Liebesgeschichte schwebt natürlich in hohen Sphären, aber wie ein überirdischer Fesselballon ist sie immer wieder streng in der Realität vertäut.

Sibylle Mulot: Das ganze Glück. Eine Liebesgeschichte. Mit einem Hafis-Orakel im Anhang. Zürich: Diogenes 2001. 175 Seiten. 255,- ATS. € 17,90. ISBN 3-257-06264-8

Sibylle Mulot, geb. 1950 in Reutlingen, lebt in Frankreich.

[Helmuth Schönauer 26/02/01]