Herzfleischentartung

Geschichtsbücher können höchstens eine Sachlage schildern, für die Vermittlung von Geschichts-Bewußtsein gibt es vermutlich nur den Ausweg über den Roman. Ludwig Laher hat für seine Erinnerungsarbeit bewußt die Form des Romans gewählt, so ist es ihm nämlich möglich, Fragen in den Text einzuwickeln und Antworten nicht nur als historische Auskunft zu geben sondern auch im Sinne Robert Musils als Möglichkeit ins Auge zu fassen. Im Innviertler Dorf St. Pantaleon hat 1940 die SA ein "Arbeitserziehungslager" errichtet, das 1941 in ein "Zigeuneranhaltelager" umgewandelt worden ist. Im Roman geht es nun darum, wie die umliegende Bevölkerung diese Lager wahrgenommen hat und was später bei der offiziellen Aufarbeitung der Geschichte alles unter den Tisch gefallen ist. Die Protagonisten dieser Überlegungen sind einerseits der fanatische Lagerbetreiber, der für sein Bewässerungsprojekt über Leichen geht, und der Gemeindearzt, der "angehalten wird", gefügige Totenscheine auszustellen. Der Gemeindearzt legt auch eine Fotosammlung an, die einen gerechten Blick auf das Lager werfen soll. Die Vorgangsweise erinnert an Ludwig Lahres früheren Protagonisten, den Maler im Roman "Selbstakt vor der Staffelei". Aber letztlich wird der Arzt von den Umständen erpreßt, um seine Familie zu retten, versucht er einen stummen Ausweg einzuschlagen. Denn was man nicht weiß, kann aus einem auch nicht herausgefoltert werden. "Herzfleischentartung" ist schließlich eine fiktive Todesart, die für einen gefälschten Totenschein erfunden wurde. In der Realität stand etwa das Wort "Lebensschwäche" für den Tod im Lager. Ludwig Lahers Roman ist ein beklemmendes Zeugnis für die Unmöglichkeit, eine Zeit zu verstehen, die gerade dabei ist, sich in die Geschichte zu verabschieden. Oft hat man den Eindruck, es ist die letzte Chance, die frühen vierziger Jahre noch einmal in Bruchstücken zu erwischen, um so etwas wie Gerechtigkeit in der Erinnerung zu ermöglichen.

Ludwig Laher: Herzfleischentartung. Roman. Innsbruck: Haymon 2001. 192 Seiten. 248,- ATS. € 18,07.ISBN 3-85218-346-4

Ludwig Laher, geb. 1955 in Linz, lebt in St. Pantaleon.

Helmuth Schönauer 26/03/01