Vademekum für Körper

Gute Literatur ist immer eine Bestandsaufnahme mit diffizilen Wahrnehmungsinstrumenten. Günther Kaip setzt auf knapp sechzig Seiten eine literarische Grunduntersuchung an, deren Einzelergebnisse als"Vademekum für Körper" zusammengefaßt sind. Insgesamt gibt es 56 Bestandsaufnahmen, in denen es um alle Arten von Körpern und Konstellationen geht. "Und diese Faszination, die der Körper auf sich selber ausübt. Das muß lange vorhalten."(10) Die Körper entwickeln also so etwas wie eine Eigendynamik oder Selbstreflexion, andererseits sind sie verläßliche Verknotungen von Materie oder Beziehungen an gewissen Schnittpunkten von Ereigniskoordinaten. Obwohl die Ereignisse zuerst einmal "literatur-mechanisch" zerlegt und von den Körpern mikroskopische Anschnitte verfaßt werden, ergeben die einzelnen Bestandsaufnahmen insgesamt wieder einen neuen poetischen Eindruck. Je genauer die Wurst aufgeschnitten wird, umso ereignishafter ist der Aufschnitt, könnte man einen rüden Vergleich ziehen. Je nach Blickwinkel ergeben die einzelnen Abschnitte zwischendurch ein komplettes Liebesgedicht, eine melancholische Abwehrbewegung zurück in die Vergangenheit oder eine sprichwortartige Zusammenfassung unveränderbarer Gegebenheiten. Günther Kaips Filetierung der Welt entfaltet diese erst zum vollen Panorama. In die Bestandsaufnahmen sind sieben Auszeiten eingeflochten, in denen die literarische Materie auskühlen und sich verfestigen kann. In einem Epilog haben sich die Figuren, die eben noch graphisch ein Einzelschicksal hatten vollends zu ein Schriftlava verflüssigt, die als geheimnisvolles Kürzel dem Buchende zudriftet. Ein interessantes Experiment, das die Literatur zu einem völlig neuen Zustand erweckt.

Günther Kaip: Vademekum für Körper. Eine Bestandsaufnahme.Wien: Das Fröhliche Wohnzimmer 2001. 61 Seiten. 100,- ATS. € 7,28. ISBN 3-900956-42-1

Günther Kaip, geb. 1960 in Linz, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 28/03/01