Wo die Erde bebt

Es gibt für Europäer diesen Mythos, wonach in Japan die Kräfte der Erde besonders blank liegen. So ist etwa der Futon, auf dem man schläft, die Antwort auf die Erdbeben: man legt sich so nah wie möglich zur Erde. Susanna Jones Roman beginnt mit einer Polizei-Szene, die absurd und zugleich witzig verläuft. Die Erzählerin Lucy, eine Übersetzerin aus England, wird verhaftet und verhört. Obwohl sie perfekt Japanisch spricht, wird ihr ein amtlicher Dolmetscher beigestellt, der fast alles verdreht und amtlich verwurstet. Langsam zieht sich jedoch der Amtsdolmetscher zurück, und die Geschichte erscheint in freier Erinnerung. Aber auch die Erzählerin zieht sich von sich selbst zurück und präsentiert der Polizei und der Leserschaft eine Lucy, die mechanisch vom Alltag entschält ist und wie ein Skelett aus einer fremden Kultur fragmentarische Gestalt annimmt. Vordergründig handelt es sich um eine Liebesgeschichte zwischen der Übersetzerin und einem Fotografen, der nur über Fotografien kommuniziert. Was sich nicht fotografieren läßt, gibt es nicht, und auch Gefühle wie Liebe und Trennung sind letztlich Gefühle, die beim Betrachten entsprechender Fotografien entststehen. Das Bild wird zum Fetisch für einen Lustgewinn, der beim Betrachten der Wirklichkeit nicht möglich ist. In dieser Phase der Liebe wird auch das Land zu einem Futon der Gefühle und kurz vor den diversen Erdbeben springt immer ein kleiner Spielzeugvogel aus dem Kasten und kündigt die Erdstöße an. In diese Liebesgeschichte drängt sich später eine Barfrau, die in England Krankenschwester gewesen ist. Und plötzlich werden verstümmelte Leichen gefunden und Lucy muß zum Verhör. Was äußerlich ein spannender Krimi in einer ungewohnten Kultur ist, ist innerlich eine höcht raffinierte Seelenbeschreibung erregter Individuen. Abbildtheorie, Psychoanalyse und Metaphysik von imaginärem Magma verhelfen dem Leser zu einem anspruchsvollen Lesegenuß.

Susanna Jones: Wo die Erde bebt. Roman. [The Earthquake Bird]. A. d. Engl. von Giovanni und Ditte Bandini. Reinbek: Rowohlt 2001. 205 Seiten. 281,- ATS. € 20,40 ISBN 3-498-03335-2

Susanna Jones, geb. 1967 in Yorkshire, lebt in Brighton.

Helmuth Schönauer 01/05/01