[Es funkt in der Bibliothek]

"Man muß sich an den kleinen Dingen im Leben freuen können - am Sonnenschein, am ersten Schnee, am frischen jungen Gras", pflegte Reginas Mutter zu sagen.

Sie war eine ruhige, kultivierte, nicht gerade schöne Frau. Im Alter von einundvierzig Jahren hatte sie, eine alleinstehende, altjüngferliche Bibliothekarin, sich mit dem betrunkenen Elektriker Kirill eingelassen, einem aufdringlichen dreißigjährigen Rüpel, der gerade von der Front zurückgekommen war.

Er kam an einem eisigen Januarabend in die Bibliothek, um die Elektroleitung zu reparieren. Draußen herrschte grimmiger sibirischer Winter, vierzig Grad Frost, im Lesesaal glühte der Kachelofen und verströmte eine schläfrige, schmachtende Hitze. Alle waren bereits nach Hause gegangen, zu ihren Familien. Nur Valentina Gradskaja hatte es nicht eilig, und so war sie gebeten worden, auf den Elektriker zu warten, der sich verspätet hatte.

Dieser erbärmliche entlassene Soldat mit seiner dicken Kartoffelnase, dem fliehenden Kinn und dem vulgären Grinsen wurde der Zufallsvater von Regina Valentinowna Gradskaja.

Alles spielte sich rasch und grob ab, auf dem abgeschabten vorrevolutionären Sofa im Lesesaal, unter den großen Porträts mit den Klassikern der russischen Literatur.

"Warum mußtest du mir das erzählen? fragte die achtzehnjährige Regina ihre Mutter. "Hättest du nicht irgendeine schöne romantische Geschichte erfinden können, von einem Polarforscher, der heldenhaft im ewigen Eis umgekommen ist, oder von einem breitschultrigen Frontsoldaten mit Orden an der Brust?"

"Er war ja Soldat", erwiderte ihre Mutter mit schuldbewußtem Lächeln.

"Er war ein erbärmliches Vieh!" schrie Regina. "Eine Mißgeburt! Von solchen kriegt man keine Kinder!"

"Regina, es war Januar 1946. Wo sollte es da heldenhafte Polarforscher geben? Auf zehn Frauen kam ein Mann. Ich war schon vierzig Jahre und stand allein auf der Welt. Ich wollte doch so gern ein Kind. Das war meine letzte Chance."

"Besser hättest du mich angelogen."

"Ich kann nicht lügen, das weißt du doch."

Aus: Polina Daschkowa, Die leichten Schritte des Wahnsinns. Berlin 2001. Seite 100-101.

 

[Kurzrezension]

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Im Moskau der Gegenwart sind alle auf eine eigenartige Weise busy, jeder scheint neben seinem Job auch noch einen Untergrund-Job zu haben, so daß alle Bewohner mehr oder weniger Tag und Nacht unterwegs sind. Lena ist Redakteurin einer Literaturzeitschrift und kann tagsüber bei ihrer Tochter sein, während sie in der Nacht die Redaktionsarbeiten erledigen muß. Sie sitzt an einer Schaltstelle zwischen Fiktion und Realität, denn erst auf ihrem Schreibtisch werden aus der unbekannten Literatur offiziell diskutierte Texte im Magazin. Lena wird vom Selbstmord eines befreundeten Sängers verständigt. Als Redakteurin mißtraut sie der offiziellen Polizeiversion und geht der Sache auf den Grund. Da setzt plötzlich ein Gewirr von Beschattungen, falschen Ärzten, untergetauchten Dienststellen und anonymen Theorien ein. Mit leichten Schritten geht es Richtung Wahnsinn, wie der Titel sarkastisch prognostiziert. Als schließlich Lenas Tochter selbst in Todesgefahr gerät, hört sich die leichte Recherche auf, es geht plötzlich um alles. Wie immer in Moskauer Lebensläufen führt die Spur bald hinaus und zurück nach Sibirien, wo die Protagonisten die Grundkonstellation für ihre lebenslangen Schwierigkeiten gelegt haben. "Du Himmel! Jetzt reicht’s aber. Das ist ja schlimmer als bei Dostojewski." (47) Diese Erkenntnis wird zum geflügelten Satz der Redakteurin. In dieser Nach-Sowjetischen Gesellschaft geht es teilweise zu wie während der amerikanischen Prohibition, zwischen der Prosperität der Machenschaften und der Armut tut sich gerade in Moskau eine gigantische Kluft auf. Oft genügt es, einen Tag lang nicht aufzupassen, um das Leben für immer versäumt zu haben. Im Untergrund hat sich eine Gegenwelt etabliert, die mit ähnlichen Geschäftsordnungen arbeitet wie die offizielle Welt. So muß ein Geschäftsmann beispielsweise ab einer gewissen Vorrückungsstufe keine Morde mehr selbst begehen, sondern bekommt für seinen Aufgabenbereich die entsprechenden Spezialisten zugeteilt. Nur Figuren wie Lena bewahren den Leser davor, in diesem gekonnt undurchschaubarer Roman die Übersicht zu verlieren.

Polina Daschkowa: Die leichten Schritte des Wahnsinns. Roman. A.d. Russ. von Margret Fieseler. Berlin: Aufbau-Verlag 2001. 453 Seiten. 281,- ATS. € 20,40.

ISBN 3-351-02914-4

Polina Daschkowa, geb. 1960, lebt in Moskau.

Helmuth Schönauer 30/05/01