Elia Veroni

Neben dem Leser, der immer wieder kraftvoll innig mit "Du" angesprochen wird, sind an diesem Fragment noch beteiligt: ein Autor, der eine unentschlüsselte Geschichte von einem betagten Lehrer findet, eben dieser Lehrer namens Professor Elia Verani, und dessen Schriften, die zum Teil ein Eigenleben entwickeln. Alle drei Figurenbereiche sind in einer anderen Schrift gesetzt, was der Geschichte eine ziemliche Rasanz gibt, da oft mitten im Gedankengang umgeschaltet wird. Die gesamte Erzählung hat zwei dramatische Höhepunkte. Der eine besteht darin, daß der Verursacher der Geschichte eigentlich verschwunden ist. Nach Alfred Andersch’s Erzählung "Mein Verschwinden in Providence" nennt man dies das "Providence-Motiv". Der andere Höhepunkt ergibt sich aus der Lust des Lehrers, durch Schreiben einen künstlichen Sohn zu erzeugen, er nennt es einmal selbst das Homunkulus-Projekt. Während der Leser aufgefordert ist, den Fall des verschwundenen Professors zu recherchieren, bietet dieser alles auf, um nicht den Schreibfaden zu verlieren. Der Schreibvorgang erinnert durchaus an erotische Vorübungen zur Zeugung, etwa wenn die aufgeschlagenen Seiten mit den aufgeschlagenen Betten koinzidieren und die stets gefüllte Feder ihren Tintensaft nur mit Mühe zurückhalten kann. In dieses Gerüst, das letztlich davon handelt, daß Literatur durch Herausfiltern gesuchter Substanzen aus einem unendlich großen Raum entsteht, in diesen Filterkuchen der Zeit sind natürlich jede Menge Partikel zur Zeitgeschichte, zu Südtirol und zu den kleinen Auswirkungen der großen Politik zu finden. Wenn etwa die plötzlich pünklich fahrenden Züge ein Stück Lebenskultur bedeuten oder in den Gärten behelmte Skulpturen aufgestellt werden, so sind dies genau jene Bilder des italienische Faschismus, die ein Heranwachsender in der damaligen Zeit für sich und sein Leben herausgefiltert hat. Die Erzählung ist durchaus erregend und unterhaltsam, zumal der Leser das Gefühl hat, daß er aktiv beim Konstruieren und Dekonstruieren des Textes gebraucht wird. Und so etwas wie eine Botschaft hat der Text vielleicht auch: Wer schreibt ( - und liest!), stapft oft nur knapp am Status eines Genies vorbei!

Marco Aliprandini: Elia Veroni. Fragmente einer Handschrift. Frammenti di un manoscritto. Ital. u. dt. A.d. Ital. von Hansjörg Hofer. Brixen: Provinz Verlag 2001. 56 + 65 Seiten. 206,- ATS. € 15,-

ISBN 88-88118-02-0

Marco Aliprandini, geb. 1962 in Bozen, lebt in Meran.

Helmuth Schönauer 17/06/01