Buch in Pension – Rezensionen 2024|04


Alexandra Bernhardt: Zoon poietikon. Gedichte.

Georg Bydlinski: Blättervogel. Gedichte. Fotografien von Birgit Bydlinski.

Kurt Drawert: Alles neigt sich zum Unverständlichen hin. Gedicht.

Bartholomäus Holzhauser: Die geheimen Visionen des Bartholomäus Holzhauser.

Ilse Krüger: Faltenkatzen. Geschichten über nicht mehr ganz junge Frauen.

Kurt Lanthaler: Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini. Roman.

Wolfgang Pollanz: Von Arschlöchern, weißen Fahrrädern.

Jörg Reinhardt: Tageswörter. Eine Sammlung.

Erwin Uhrmann: Zeitalter ohne Bedürfnisse. Roman.

Caroline Wahl: 22 Bahnen. Roman. ( = Innsbruck liest 2024).


GEGENWARTSLITERATUR 3360

Zoon poietikon

Manche Begriffe fußen glücklicherweise immer noch auf menschlicher Intelligenz, sie lassen sich auch durch penetrante Anrufung nicht von der Google bewältigen. Gibt man also „Zoon poietikon“ ein, so wird daraus ein „politikon“, das sich hartnäckig über dem gesuchten Begriff einnistet.

Alexandra Bernhardts Gedichte stützen sich auf dem Kanon der Lyrik, wie er in leichter Veränderung seit Jahrhunderten tradiert wird. Verszeilen aus dem Griechischen, Renaissance-Sonette, der Schalk der Romantik und die Süße des Sprachspiels sind als Schattierungen quasi in jedem Gedicht verborgen. So lassen sich ihre Texte stets zweifach lesen, einmal als ihr Original, wie es einer Tagesverfassung entsprungen ist, und einmal als Zitat für ein literaturhistorisches Setting, das dadurch geadelt und für weitere Jahrhunderte gerettet wird.

Beim „Zoon poietikon“ könnte man also grob von poetisierten Lebewesen sprechen, die in Gestalt von fünfzig Gedichten sich zu einem Tier-Atlas von Lebensformen ausgebreitet haben. Diese etwa um die zehn Zeilen langen „Tierporträts“ treten alphabetisch von Adler bis Zebra auf und vermitteln fürs erste ein unbekümmertes Inventar von Tierarten, mit denen sich der Mensch seit Jahrhunderten angelegt hat.

In ein paar Jahrzehnten, ist zu vermuten, werden diese Tierarten alle ausgestorben sein, was ihren poetischen Glanz vermutlich erhöhen wird. Den aktuell besungenen Tieren sind lakonisch zwei renommierte Einschätzungen der Arten-Lage vorangestellt. Platon nennt den Menschen ein „zweibeiniges Tier ohne Federn“, und Lord Byron kommentiert die Evolution knapp in Schlagzeilen: „Staaten zerfallen, Künste schwinden – Natur aber vergeht nicht.“ (9)

Die ausgewählten lyrischen „Protagonisten“ haben neben ihrer evolutionären Eigenentwicklung auch permanente Ausrottung, Vernützlichung oder Zähmung durch den Menschen erfahren

Der Adler (11) im ersten Gedicht hat dabei noch ziemliches Glück, dass er oft als Wappentier und Orden verwendet wird. In der poetischen Darstellung sind die zwölf Verse linksbündig gekantet und stechen dadurch nach rechts wie die Umrisse eines Adlers ins Papier. Der Text gleicht einem Gebet oder einer Huldigung: „Der / du bist / zu kreisen / auszubahnen / zu ermessen / Schluchten Wasser / Höhen : aufgestiegen / in die Himmel /auszuweiden / rohe Erde : / Luft zu / sein“.

Dem Hermelin (51) ergeht es schon weniger naturfrisch, auch wenn er von einer gewissen Erhabenheit profitiert, indem er um den Hals von Hohen Gerichten gewickelt mit diesen gepuderten Perücken Recht spricht. „Von hohen Gnaden ganz umgürtet […]“

In sogenannten Naturfilmen wird den Tieren oft eine Handlung unterlegt, die kurz vor Filmende mit einer heftigen Paarung endet. Hingegen verzichten die Plots von lyrischen Tierschicksalen auf diese Handlungen und kulminieren in Bildern und Motiven, die aus den Lebenszyklen der Tiergattungen straff herausdestilliert sind.

Das Wesen der Amsel (13) ist verdichtet zu einem fliegenden Stein, der in den Frühwind geschlagen ist. Die Amsel ist im Gedichtband freilich nicht für sich allein gestellt, sondern konnotativ mit dem Adler und dem Armadillo verbunden, welche sie als Motivkette umklammern. Das Gürteltier seinerseits nimmt von der Amsel das Klumpige eines Steins und gibt es, nachdem es sich in seinem Panzer verkrochen hat, anstandslos an den Axolotl weiter, der im anschließenden Gedicht das Kauern in Höhlen zelebriert.

In dieser spielerischen Form greift die Schöpfung recht ungewöhnlich in einander, aber es wird das Wesen der Biodiversität auch poetisch ersichtlich: Nimmst du auch nur einen Helden dieser tierischen Ahnengalerie vom Haken, bricht dir quasi das gesamte Bild von der Welt zusammen.

Das Aufrufen der einzelnen Tier-Helden evoziert auch gleich ein Stück Menschheitsgeschichte, die Tiere sind ja über Jahrtausende nicht nur beschrieben und gezeichnet worden, sondern auch in die Rituale und Kulte der Menschen eingegangen.

Am Beispiel des „Wolf-Gedichtes“ zeigt sich überraschend deutlich, was es mit den heiß diskutierten Wolfsrissen und Wolf-Entnahmen poetisch auf sich hat.

Wolf // Ist / umschlichen / umsteht : umgeht / ist entwichen besser / nicht in Meuten zu / suchen : ist waldkarg / Wiedergänger ältesten / Adels : steht ehern / gegen er trifft / dich von / vorn“ (107)

Achtung, Würde, Partnerschaft sind die Grundstimmung dieser Gedichte, die durch die Preisung der Lebewesen als „Zoon poietikon“ den Menschen klein halten in seinem Wahn, alles in Literatur verwandeln zu können. Die Weltordnung des Sprach-Fleisches ist für Augenblicke auf den Kopf gestellt, wie es im Vor-Gedicht heißt.

Der Mensch / ein Tier / gemacht / dem Wort / gesponnen / aus dem / Widersinn / gedacht / der Sprache / machtvoll / Fleisch“ (7)


Alexandra Bernhardt: Zoon poietikon. Gedichte.

Klagenfurt: Sisyphus 2024. 109 Seiten. EUR 12,-. ISBN 978-3-903125-86-5.

Alexandra Bernhardt, geb. 1974 in Bayern, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 28/04/24



GEGENWARTSLITERATUR 3358

Blättervogel

Ein richtig zusammengesetztes Wort kann in der Lyrik so etwas wie eine poetische Kernschmelze auslosen. „Blättervogel“ ist eine geniale Wortkomposition, im direkten Bild verschwindet darin ein Vogel im Blattwerk, im übertragenen Sinn geht der Vogel, lyrisches Urbild für den Flug der Zeit, in den Blättern eines Gedichtbandes auf.

Georg Bydlinski spielt in seinen Gedichten mit den Scherwinden des Blicks, die oft auftreten, wenn man einem Bild zu nahe tritt. Mit der knappen Bezeichnung „Blick“ ist dieser magische Vorgang umschrieben, der letztlich zu einer neuen Sicht auf den Tag, wenn nicht gar zu einem Gedicht führt.

Blick // … dass ich die Welt erkenne / mit neuen Augen // sie begreife / mit Sprache / wie mit meiner Hand“ (5)

Die drei „Erkenntnisvorrichtungen“, die zu einem lyrischen Konzentrat führen, sind in diesem Gedichtband mit den Kapiteln überschrieben: Mitsprache, Einschlüsse, Südwärts.

Einmal ist es das lyrische ich, das sich intim in die Öffentlichkeit einmischt, sei es durch Lektüre oder „Fang | Fund“, wie die Doppelseite 10/11 angelegt ist. Einmischen und Einwirken lassen sind dann auch die zwei Kanäle der Mitsprache.

Zum andern werden rätselhafte „Einschlüsse“ vorgestellt, wenn etwa in einem Acker ein Schatz eingeschlossen bleibt, während an seiner Oberfläche die Fruchtfolge gepflegt wird. Aber auch die beiden Gedichte „Mutter, nach dem Schlaganfall“ (41), „Mutter, zuhörend“ (42) handeln von Einschlüssen, die sorgfältig umhegt werden müssen, will man sich auf ihre Botschaften einlassen.

Der dritte Erkenntniszugang besteht aus einer schlichten Richtungsangabe „südwärts“, wobei der optimistische Klang des Wortes Süden in Reisebildern in Erfüllung geht. In einem Bogen eins bis zwölf und zwölf bis eins wird eine Bewegung angedeutet, worin sich das Ich auf den Weg macht, um verlässlich wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren zu können. Der Ausgangspunkt ist dann auch das Ende des Gedichtbandes, der mit dem unverwechselbaren Glücksgeräusch endet: „Katzenschnurren: daheim“ (66)

Den Gedichten liegt freilich eine Art sensitive Chronik zugrunde, wenn das lyrische Ich in verdichteten Tagesnotizen den Zufall überwindet durch Konsequenz, es gilt nämlich wach zu sein und geduldig.

„ … dreht sich die Welt weiter / mit mir und meinem Buch / und ich entdecke sie / - nur zeitweise eingeklammert - / nach der Lektüre / wie neu“ (9)

Urlaubschronik // An jedem Tag hier / ein Gedichtbuch gelesen - / welch schönes Zeitmaß“ (17)

Licht auf dem Wasser / Schau schnell / da ist’s / schon wieder / fort“ (26)

Bei all dem regelmäßigen Registrieren und poetischem Kommentieren kann es schon passieren, dass jemand plötzlich siebzig ist. „Das Wesentliche / sagst du / ist schon vorbei // Das Wesentliche / schweig ich / kann nie / vorbei sein.“ (48)

Ähnlich diesem Dialoggedicht sind die Fotografien von Birgit Bydlinski zu sehen, die sechzehn Fotos sind im Überblicksverzeichnis als „Foto-Motive“ ausgewiesen, sie ergeben für sich gelesen eine Art Meta-Gedicht.

Turmspitze in Wolken / Krähe im Baum / Blättervogel / Abendlichter / Baum und Teich im Oktober / Wasser und Stein / Blick vom Ufer / Buchhaus / Steinornament.“

Bilder und Gedichte stehen in permanentem Diskurs, wie man so schön sagt, wenn sich aus zwei Einspeisungen eine neue Substanz ergibt. Dabei verschmelzen lyrische Partikel wie das Haiku mit dem Bildlichen, wie es das Ornament darstellt.

In aller Verknappung bleibt jeweils genug Platz, um als Leser auszuschweifen über Text, Bild und Buchrand hinaus.

Ein karger Epilog versucht diesen weiten Blick noch einmal zu fokussieren, aber selbst das deklarierte Ende ist schon unwiederbringlich in das offene Gedankenfeld übergegangen. Der Vogel ist im Blattwerk verschwunden.

Epilog // Lyrikband – Vogel aus Blättern“ (67)


Georg Bydlinski: Blättervogel. Gedichte. Fotografien von Birgit Bydlinski.

Salzburg, Wien: Edition Tandem 2024. 72 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-904068-99-4.

Georg Bydlinski, geb. 1956 in Graz, lebt in Mödling.

Birgit Bydlinski geb. 1955, lebt in Mödling.

Helmuth Schönauer 14/04/24



GEGENWARTSLITERATUR 3356

Alles neigt sich zum Unverständlichen hin

Das Thema eines jeden Langgedichts ist der Atem, nur wer den sprichwörtlich langen Atem hat, kann es lesen oder schreiben.

Kurt Drawert setzt alles auf eine Karte und arrangiert „es“ zu einem Langgedicht. Der poetische Atem wird fürs erste nur unterbrochen durch die Bewegung des Umblätterns. Ein wenig später jedoch tut sich eine erste Struktur auf: In vierzehn Paragraphen wird die Materie zerteilt wie auf einem Verschiebebahnhof, um bald darauf wieder in neuer Zusammenstellung aus dem Gedächtnis-Knoten zu rollen.

Die Paragraphen sind mit Überschriften versehen, die eine vage Richtung angeben, wohin zu denken ist. „Die Würde des Menschen ist. / Das Ypsilon der Hysterie. / Anfang + Ende. / Die letzte Stunde. Vor den Spätnachrichten. / Psalmen. Gebete.“

In der Ausformung sind die Sätze wie in alten Druckstöcken zurechtgemacht für einen überspringenden Funken zwischen den Zeilen. Die Leer-Zeilen haben es in sich, sie durchkreuzen unbarmherzig den Lesefluss, indem sie sich nach jeweils drei Vollzeilen einmischen und den Text unterbrechen. Dieses erzwungene Anhalten verlangsamt die Lektüre. Wer mit dem gebräuchlichen Diagonal-Lesen oder An-den-Rand-Springen mit den Augäpfeln unterwegs ist, muss sich einbremsen, denn der Sinn geht meist über die Leerzeilen hinaus.

Ich gehe nur noch ein + aus im eigenen Haus der Vermutung.“ „Meine Angst vor der Unsterblichkeit ist größer als vor dem Tod.“ (6)

Diese Methode des Überspringens kommt auch in der Dramatik der Motivanordnung zum Vorschein. Einmal angenommen, ein Textabschnitt zieht mit regelmäßigen Atemzügen durch die Zeit, so sind darin kleine Rituale eingelagert, die vielleicht an jedem Tag fix auftreten.

Aufwachen: „Noch gar nicht erwacht, fragt mich eine Stimme nach meiner Potenz. Weiblich vorinstalliert.“ (25)

Den Tag durchmachen: „Ich muss dringend was kaufen.“ (28)

Einschlafen: „Und auch ein Satz ist ein Rätsel. Also neigt sich, mit jeder Stunde, die ich länger wach bin, alles zum Un-/verständlichen hin. - Jetzt höre ich einfach, + für immer, mit allem auf.“ (34) Diese letzte Formel zum Tag dient auch als Buchtitel.

Die Überraschungen liegen sowohl in der Verbindung als auch in der Vereinzelung der Motive. Manches kommt als Paradoxon ins Spiel: „Am Nullpunkt stünde ich gerne. Verstand ist wie Sand in der Eieruhr.“ (84) Anderes wiederum zeigt sich als Pures Aha-Erlebnis, wenn erklärt wird, dass es das Ypsilon im Wort Hysterie ist, das die Hysterie auslöst. (16)

Ab dem letzten Drittel des Langgedichtes geht es in Richtung letzte Dinge.

Es beginnt mit dem Ausläuten des Tages durch die Spätnachrichten. Diese sind ja meist so formuliert, als gäbe es kein Morgen und als sollte mit dem katastrophenartigen Gestus der Atem zur Verlangsamung gezwungen werden. Wer von der Zuspitzung der Nachrichtenerregung herunterkommt, kommt auch mit seiner eigenen Erregung zurecht.

Plötzlich sind auch die Leerzeilen auf einen Vierzeiler-Rhythmus umgestiegen. Das Kapitel spielt jetzt in Amerika, indem „America Metaphern“ gezielt zum Klingen gebracht werden, Ölpumpen in der Wüste, achtspurige Autobahn, ein schroffes Schild in Richtung Canyon: schon sind alle Filme, die das lyrische Ich je gesehen hat, abrufbereit.

Auf der Reise durch diese Metaphern bricht auch das Ich zusammen wie bei einem Schlaganfall. Die Sprache ist gestört, ein Flügel des Rückflugs lahmt, an einer Stelle ist sogar von einem Taxi die Rede, welches das zerstörte Ich von Kalifornien aus direkt in den Odenwald zurückbringt.

Im Odenwald schließlich, ausgelegt als reifes Gelände zum Ausgeistern erfüllter Seelen, geht es in der Hauptsache um Psalmen und Gebete (142), jede andere Ausdrucksform bliebe ungehört.

Nichtstun ist immer auch eine Handlung. Wir haben diese Möglichkeiten, keinen Schaden anzurichten. Wir müssen auf den Hasen nicht schießen.“ (156)

Den vierzehn Paragraphen sind jeweils zwei Fotos als Abschluss beigefügt. Der Autor erklärt, dass er Fotos misstraut, aber dennoch sind sie faszinierend, weil sie einen Traum von Echtheit wiedergeben. Jedes Motiv ist zweimal abgeknipst mit leichter Veränderung des Blickwinkels. So ist einmal eine Amtstafel abgelichtet, die stumm für sich allein in die Gegend glotzt. Im zweiten Blickwinkel ist sie von der Seite zu sehen, und siehe, jetzt sieht man auch ihre Botschaft: Nämlich nichts.

Für alle Zaghaften, die sich nicht mit eigenem Gemüt über dieses wunderschöne Gedicht darüber trauen, hat Kurt Drawert eine kleine Leseanleitung hinzugefügt. Darin verwendet er drei Fachbegriffe, damit auch die Fachleute wissen, wie sie das Ding, das sich zum Unverständlichen hin neigt, lesen sollen. „Syntaktisch / semantisch / als analoges Agententum.“ Die Lese-Vorschläge können auch ironisch aufgefasst sein, das Gedicht selbst bleibt eisern bei sich selbst und überzeugt.


Kurt Drawert: Alles neigt sich zum Unverständlichen hin. Gedicht. 42 Abbildungen.

München: C. H. Beck 2024. 175 Seiten. EUR 24,70. ISBN 978-3-406-81379-5.

Kurt Drawert, geb. 1956 in Henningsdorf, lebt seit 1996 in Darmstadt,

Helmuth Schönauer 11/04/24



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2398

Die geheimen Visionen des Bartholomäus Holzhauser

Bei der Beschäftigung mit „heimatlicher Chronik“ treten unter dem Schutt von Trivia immer wieder kleine Zeitkapseln zu Tage, worin dokumentiert ist, dass ein großer Geist an einem kleinen Ort gewohnt hat und darin vergessen worden ist.

Hannes Hofinger geht mit seinem bodenständigen Verlag konsequent die historischen Substanzen seiner Gemeinde St. Johann durch und wird fündig. Ab und zu befreit er einen Fund vom Staub der Zeit, lässt ihn historisch begutachten und veröffentlicht das Ganze als kleines Faksimile.

Von dieser bibliothekarischen Naturneugierde beseelt hat er kürzlich unter der fachlichen Kommentierung von Peter Fischer die „geheimen Visionen des Bartholomäus Holzhauser“ herausgebracht.

Dieser Bartholomäus Holzhauser gründete 1640 die Bartholomäer oder Communisten als Institut der in Gemeinschaft lebenden Weltpriester. Als Überlebensgemeinschaft gegen das allgemeine Chaos gleicht die Einrichtung einem gewerkschaftlicher Zusammenschluss von Überlebenspredigern für Endzeit-Visionen.

Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges ist jedes Mittel recht, wieder Orientierung in die totale Verwüstung der Menschheit zu bringen. Die Bartholomäer versuchen durch heftiges Predigen das Chaos mit Bildern zu verdecken, indem die Apokalypse wortgewaltig in Zaum gehalten und durch Anrufung des Herrn überwunden wird.

Rhetorisches Zaubermittel ist dabei die Vision, die oft in pure Prophetie übergehen kann. Angeblich fällt bei der Orientierungslosigkeit und Verzweiflung der Menschen jedes noch so absurde Erzählmittel auf verwahrlosten Boden, wo es geistig zu indoktrinären Pflanzungen führt.

Bartholomäus Holzhauser macht 1642 als Dechant Station in St. Johann in Tirol (damals Leukental) und hat offensichtlich zehn Visionen im Gepäck oder im Auge, die er später auf Latein zu Papier bringen wird.

Eine spätere Übertragung ins Deutsche aus dem Jahr 1795 ist Quelle des aktuellen Faksimile-Büchleins, das einen interessanten Diskurs über die geistige Verfasstheit unserer lokalen Gesellschaften in Tirol und Umgebung auslösen könnte.

- Gerade sind die Kommunisten im Vormarsch in die lokalen Gemeinderäte. Während wir diskutieren, ob man den Namen nach dem Stalinistischen Desaster noch verwenden kann, zeigt uns dieses Büchlein, dass der Communistische Verein schon einmal vor 400 Jahren bei uns gewerkelt hat.

- Die sogenannte Pandemie wurde mehrfach als apokalyptisch bezeichnet, zumindest was die Diskussionsfähigkeit der Gesellschaft betrifft, sind allenthalben Visionäre und Propheten am Zug, die als Impf-Prediger oder deren Gegner jenseits der Logik durchaus Gehör finden.

- In den zehn dargestellten Visionen ist oft von monströsen Tieren, Ungeheuern und zoologischen Entgleisungen die Rede. Wenn man die Viren als für die Apokalypse besonders geeignete Spezies bezeichnet, können die Visionen aus dem siebzehnten Jahrhundert wörtlich übernommen werden. Der erzählerische Trick: Man muss sich Monster nicht als großes mit Gott kämpfendes Ungeheuer vorstellen, sondern als was Kleines, was die Menschheit spielend unterwandert.

- Und während man zu Bartholomäus Zeiten die Apokalypsen-Deutungen mit dem Satz einleitet: „Ich sah ein Feuer im Norden!“, sieht man heute überall am Display eine App, als Abkürzung für Apokalypse, die TikTok-Visionen ausspuckt.

Die Engführung zwischen den Genres Apokalypse und TikTok lädt geradezu ein, Parallelen zu setzen. In beiden Fällen erregt ein bislang noch nie gesehenes Produkt Aufmerksamkeit und lässt den User einen Klick oder damals ein Stoßgebet absetzen. In beiden Fällen ist es wichtig, bei der Stange zu bleiben und nicht vom Glauben oder Sendekanal abzufallen. Beide Scroll-Vorgänge können den Lauf der Welt zwar nicht beeinflussen, aber für kurze Augenblicke Linderung verschaffen: Wenn die Welt schon untergeht, so kaufe ich mir noch schnell ein Gadget im Netz.

Die St. Johanner von 1642 werden erbärmlich an den Nachkriegsfolgen und der stets repressiven Kirchenobrigkeit gelitten haben, ihnen hat man als Linderung ein Stoßgebet gestattet. „Lob, Ehre, Kraft, Herrlichkeit, Macht und Herrschaft sey Gott und dem Lamme in Ewigkeit.“ (46)

Eine schöne Anekdote wird indes aus der Nachkriegszeit 1945 berichtet. Als es mit dem Krieg „bergab“ ging, wie man im Volksmund sagt, sollen vermehrt Apokalypsen in Umlauf gewesen und die Nazis als apokalyptische Reiter gedeutet worden sein. Eine Spur dieser Visionen führt in das Dekanat St. Johann, wo man den Priester zu verhaften gedenkt. Die Gestapo muss aber abrücken, als sich herausstellt, dass der „Visionär“ schon seit dreihundert Jahren tot ist.

Für bibliophile Lesende gibt es bei diesem Faksimile den unsterblichen Sound des Archivs zu genießen, die Seiten sind gebraucht, in alter Schrift gesetzt und im Duktus ohne jegliche Zwischenatmung. Das Lesen wird zur Meditation, die Grundvoraussetzung zum Lesen dieser geheimen Visionen.


Bartholomäus Holzhauser: Die geheimen Visionen des Bartholomäus Holzhauser. Vorwort von Peter Fischer. Herausgegeben von Hannes Hofiunger.

St. Johann/T: Verlag Hofinger 2024. 56 Seiten. EUR 10,-. ISBN 978-3-9505074-9-2.

Bartholomäus Holzhauser, geb. 1613 in Laugna, Dekan in St. Johann in Tirol, starb 1658 in Bingen.

Helmuth Schönauer 02/05/24



GEGENWARTSLITERATUR 3357

Faltenkatzen

In der Nacht sind alle Katzen grau, und auch ihre Falten sieht man nicht.

Ilse Krüger ist eine Meisterin der Ironie, wenn sie plumpe Sprichwörter, verrutschte Selfies, und falsche Binsenweisheiten durch die Lebensrealität zurechtrückt. Ihre Heldinnen kämpfen mit Vorurteilen und falschen Prophezeiungen, die über sie im Umlauf sind. Oft sind natürlich die Männer der Grund für den Dissens zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Aber bei genauerem Hinhören stellt sich bei Männern und Frauen eine ähnliche Unwucht heraus, die ihre Bilder zum Trudeln bringen.

Die 18 Geschichten über „nicht mehr ganz junge Frauen“ sind vor knapp dreißig Jahren im Wiener Frauenverlag erschienen. Damals schon programmatisch der Aufklärung und dem Feminismus verpflichtet erweisen sich die Geschichten heute als frischer denn je. Jetzt zeigen sie nämlich die Protagonistinnen in ihrem „milden Kern“ voller Ironie. Autorin, Heldinnen und Publikum sind mittlerweile gereift und beurteilen die einzelnen Sequenzen mit jenem flinken Gestus, mit dem man die Seiten eines Fotoalbums einer vergangenen Epoche umschlägt.

Die dargestellten Schicksale lassen sich aus dem Blickwinkel der Gegenwart sauber unterteilen in tagespolitische Phänomene und in einen kulturellen Trend, der über die Sachverhalte gelegt ist. Oft spielen sich die Geschichten „wie immer“ ab, aber das Vokabular hat sich verändert. Bemerkenswert ist dabei die Milde, die aus heutiger Sicht auf beide Geschlechter gelegt ist, vielleicht auch, weil man heutzutage bei der Analyse des Zusammenlebens auf mehr als nur auf zwei Geschlechter Rücksicht nehmen muss.

In Zeiten der „Faltenkatzen“ haben die Heldinnen das Ruder fest in der Hand, zumindest in den Geschichten. Die Männer sind Randerscheinungen, wenn sie in der Aufmerksamkeit klein gehalten werden, lässt es sich besser einschätzen, welche Probleme von den „nicht mehr ganz junger Frauen“ hausgemacht sind.

Die wahre Machtverteilung zwischen Mann und Frau zeigt sich im letzten Lebensabschnitt des mehr oder weniger freiwilligen Zusammenlebens. So benimmt sich ein „Herr des Hauses“ zum Frühstück äußerst widerlich und kotzt seine Stimmung regelmäßig als „Großwetterlage“ (23) aus. Seine Frau lässt ihn ausbellen, während er allmählich in Gebrechlichkeit verfällt. Das Frühstück ist aufgetischt als Ritual einer vergangenen Zeit, als die beiden noch bemerkten, was auf dem Tisch steht. Jetzt gilt es, den Alten als Stillleben ruhig zu stellen. Die Frau droht mit einem Spaziergang nach Schönbrunn, weil das der Großwetterlage entspricht. Der Mann verfällt abermals, es reicht höchstens für eine Runde ums Haus. Dann ist er müde bis zum nächsten Tag, und die Frau kann ihr eigenes Leben führen.

In der Erzählung „Aufbäumen“ (47) soll Hermine nach einem heftigen Klinikaufenthalt entlassen werden. Sie aber bäumt sich auf, denn es steht ihr zu Hause ein Weiterleben mit ihrem gebrechlichen Mann bevor. Sie will unbedingt ins Heim! Aber das ist im Budget nicht drin. Die Kinder bringen sie wieder nach Hause und werden ab und zu vorbeischauen. Hermine steht fassungslos ihrem alten Ehemann gegenüber, der von all dem nichts mitbekommt.

Aber das Alter kann auch ohne erzwungene Zweisamkeit zur Verstörung führen. Die eine Heldin begutachtet täglich ihren Vorrat an Einweckgläsern und ist erfreut, wenn etwas schimmlig ist und weggeworfen werden kann. Eine andere flitzt durch den Garten und baut den angrenzenden Wald um. Einzelne Bäume müssen Klima-gerecht ausgebaut werden, ein Unterfangen, das an griechische Mythologie erinnert, wo in jedem Baum ein Gott aus früheren Zeiten steckt.

Das „verlogene“ Alter zieht sich als düsterer Faden durch die erzählte Melange. Entweder die anderen kapieren es nicht, wie es den Protagonistinnen beim Verrotten ergeht, oder sie übertünchen es mit falschen Ritualen, wenn sie etwa der Mutter zum Sechzigsten einen Ring schenken, den sie sich vor Jahrzehnten gewünscht hat. Jetzt steht sie da mit einem Ring, der vom Finger fällt, jetzt ist sie alt genug, dass man ihr danke sagt fürs Lebenswerk. Die Kinder, der Mann, alle haben zusammengelegt für diesen mickrigen Ring.

Den Geschichten vom „erledigten Leben“ stehen die Aufmuck-Storys gegenüber, in denen die Heldinnen noch einmal Widerstand leisten gegen das Unausweichliche. Zumindest wollen sie die Veränderungen als freiwillig empfinden, auch wenn die Zukunft unbeeindruckt von der Stimmung über die Kämpferinnen hereinbricht.

Vera wird an der Gebärmutter operiert, sie fühlt sich als Sackträgerin, der die Last des gebärenden Sackes endlich abgenommen wird. Sie wird sich eine kleine Auszeit nehmen und vielleicht bräunen und sagen, dass sie Wellness gemacht habe. Dann kann ihr Freund schauen, wie er zu seinem Kind kommt, das er an manchen Tagen mit ihr zeugen will, an anderen Tagen wiederum nicht. Nach der OP ist wenigstens Tabula rasa.

An anderer Stelle sind Beamte und Beamtin in Rente gegangen und haben sich ein schön strukturiertes Leben vorgestellt. Aber der Mann ist ein Versager für alle Pläne, schon nach ein paar Tagen weiß die Frau: Es wird Kampf geben!

Was redet man eigentlich zusammen, wenn man zusammen alt werden muss. Wieder einmal steht ein Paar vor der Leere des Lebensabends. Da kommt sein Gespräch glücklicherweise auf die Nachbarsfamilie zu liegen, die Fialas haben einen Sohn, der ihnen keine Freude macht, weil er kriminell geworden ist. Und das Paar hat endlich ein Schicksal (69), das es bereden kann, um über den nächsten Tag zu kommen.

Das Schwindeln mit dem Alter, das Vertuschen der Macken, das letzte Aufkeimen erotischer Säfte schimmern durch, wenn sich die „Faltenkatzen“ räkeln und putzen.

Bei einer Seniorenwanderung wird jeder Schritt begutachtet, wie gut die eine oder andre noch beisammen ist. An anderer Stelle wirft sich die Spät-Erotische in Schale und Parfum mit dem Ergebnis, dass ihr im Park ein kleiner Junge zuläuft und sie beschnüffelt, weil sie wie seine Mutter riecht. Der Aufriss im Park geht ins Leere und gleicht jener Frau auf Dienstreise, die leer im Hotel liegt und wartet, dass sie von ihrem Lover angerufen werde.

Dagegen ist eine Home-Invasion von unerwarteter Klarheit. Zu Zeiten ohne Handy hat ein Paar eine Autopanne und läutet im nächstbesten Häuschen ein ältliches Paar heraus, um die Abschleppung zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit begutachten die Fremden sowohl Häuschen als auch Paar und sagen unverblümt, dass beides Scheiße ist. Jetzt ist die Idylle kaputt, und somit das ganze Leben, weil dieses als Idylle konzipiert ist.

Man hört Ilse Krüger schmunzeln, wenn sie ihre Figuren quasi unverändert aus dem Leben abtextet und in die Kiste mit den Faltenkatzen steckt. Wunderbarer Frohsinn tritt ein.


Ilse Krüger: Faltenkatzen. Geschichten über nicht mehr ganz junge Frauen.

[E.A. Wiener Frauenverlag, Wien 1995].

Klagenfurt: Sisyphus 2024. 109 Seiten. EUR 12,80. ISBN 978-3-903125-85-8.

Ilse Krüger, geb. 1939 in Zwettl, lebt seit 1946 in Wien.

Helmuth Schönauer 26/04/24



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2400

Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini

Eine Biographie wird umso genauer, je mehr Abschweifmöglichkeiten und Seitenthemen sich entlang des Heldencharakters entwickeln.

Kurt Lanthaler gilt als Meister der „Delta“-Beschreibung. Im Roman „Das Delta“ (2007) verliert sich ein Held im Zwielicht des Po-Deltas, feste Materie geht in Schlamm über, Lungenatmung weicht über Kiemen-Konstrukte aus, der Erzählfaden geht verloren, während sich Geschichten um einen schwimmenden Erzählstandpunkt versammeln.

Im „Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini“ bringt Kurt Lanthaler diese vage Erzähllage zur Perfektion, indem er zwischen Argentinien und Italien, den Zauberkünsten Zirkus und Fußball, und den fixen Heldenposen und entgleisten Fan-Gesten einen „Vorbericht“ installiert. Das Genre Roman lässt er dabei nur gelten, wenn es „hinten offen bleibt“, wie man so schön über das literarisierte Leben sagt.

Die Figur Renato Cesarini geht 1907 als Baby in Buenos Aires von Bord, es ist von der Atlantiküberquerung nur mäßig beeindruckt und schlüpft zum Aufwachsen gleich einmal in die Schuhe des Vaters, der als Schumacher aus Neapel sofort „Fuß gefasst“ hat und Schuhe produziert wie am alten Kontinent.

Dieses nützliche Handwerk verschafft dem heranwachsenden Renato jede Menge Halt, indem sein Vater ihm jeweils die passenden Schuhe zusammennagelt, mit denen er als Kicker und Zirkusartist standfest bleibt. Da in Europa und Südamerika das gleiche Fuß-Maß herrscht, kann er in der Folge ständig zwischen den Kontinenten hin und herpendeln auf der Suche nach dem ihm angemessenen Lebensstil. Dabei legt er eine außergewöhnliche Karriere als Fußballer der Nationalmannschaften Argentiniens und Italiens hin.

Hin und hergerissen zwischen dem Argentinischen und dem Italienischen stellt er schließlich fest, dass es das Flüchtige dazwischen ist, das die letzte Festigkeit ausmacht. Womit wir wieder bei der Delta-Kultur des Kurt Lanthaler wären.

Das große biographische Spiel flunkert denn auch zwischen den beiden Grenzpositionen hin und her: Gibt ein fulminantes Abenteuerleben Auskunft über die vorherrschende Lebenskultur der Nicht-Abenteurer? Oder leitet sich aus der Exzentrik des Helden erst die breite Mitte der zeitgeschichtlichen Kultur-Follower ab?

Der Roman hält sich an die Stationen Buenos Aires, Genua, Turin und wiederum Buenos Aires, der vorgestellte Held erkundet dabei die Massenphänomene, die ihn als Fußballgott umgeben. „Gekonnt bringt er Fußball, Nachtleben und Zirkus unter einen Hut“ (78), heißt es einmal zusammenfassend.

Unter diesem Hut kommt es natürlich zu innigen Begegnungen mit ähnlichen Lebenskünstlern und Zeitgeist-Protagonisten, Argentinien und Italien werden fallweise von rechtsextremen Positionen aus politisch gestaltet, und Helden stehen dabei immer im Mittelpunkt der Machtprojektionen.

Um dieses vage Gerüst biographischer Daten herum sind unzählige Zeitungsnotizen, politische Kommentare, familiäre Anekdoten und geflunkerte Bar-Storys herumgeflochten.

Der Roman ist sauber in fette Überkapitel und kleinere Dünn-Kapitel gegliedert, oft setzt eine Sequenz mit einer Banalität oder Abschweifung ein. „Drei Meldungen, eine Zeitung“ / „Nach ausgedehntem Nachmittagsschlaf“ / „Man kann Geschichte insgesamt“ / „Da gehen die Geschichten“ […] Alle diese Aufmacher reißen den Leser jeweils neu in den Text hinein, die Andockstellen machen neugierig, egal wie elementar die daraus folgende Aussage sein wird.

So muss dann auch die Leserschaft am Schluss bewerten, was für das Heldenleben wichtig und was ein erzählenswerter Schnörkel ist. So wechseln die Eltern bei der Auswanderung noch schnell das Schiff, weil das geplante Schiff untergegangen ist, dafür hält sich Renato bei seiner ersten Rückfahrt nach Italien einen Affen namens Scimmi.

Ob wichtig oder nicht, beim Erzählen tut man sich leichter, weil man die Überfahrten nach entsprechenden Schlagwörtern Untergang oder Affe abbuchen kann.

Hinter der ungewöhnlich barocken Beschreibung eines Fußballgottes tut sich freilich das Hauptthema auf. Wie kann ich postmodern erzählen, ohne dass es die Leser für postmodern halten? In dieser Erzählform ist bekanntlich der Leser der letzte Erzähler, der das Gelesene für sich realisiert.

Der Leser ist also zwingend zur Mitarbeit eingeladen, indem er den vorgestellten Roman für sich vollendet. Der Ausdruck „Vorabbericht“ deutet auf diese Absicht hin. In einer Einbegleitung wird ein wenig die Quellenlage gesichtet, nach Planung eines Dokumentationsprojekts taucht tatsächlich eine Schuhschachtel voll Tonbänder auf, die man abhören müsste, wenn man ihre Authentizität überprüft hat. Hier sitzt der Quellenlage noch der Schock der gefälschten Hitlertagebücher im Nacken.

Am Schluss taucht ein Zettel auf, der nach Lektüre vernichtet werden muss. Darauf ist von der ominösen „Zona Casarini“ die Rede, die bis 2031 unter Verschluss gehalten werden muss. Beim Helden handelt es sich also nicht um eine Person, sondern um eine „Zona“, man könnte auch Mythos dazu sagen.

Fans von Kurt Lanthaler muss man nicht lange erklären, was für groteskes Gedankengut hinter der hin und her flitzenden Bio-Materie rund um Cesarini steckt. Schelmenroman, Künstlerepos, Fußballgott-Saga, alles ist richtig bei der Bewertung dieses Romans.

Gut versteckt hat der Autor überdies selbst das Werk eingeschätzt: „Eine Notiz so gut wie ein Epos. / Mein Großvater war mit acht Jahren allein emigriert und hatte den Atlantik überquert. Kennzeichen: „unbegleitet!“ stand auf seiner Karteikarte im Einwanderungsbüro des argentinischen Staates. Eine Notiz so gut wie ein Epos. / Paolo Rumiz, Der Leuchtturm 2017“ (92)


Kurt Lanthaler: Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini. Roman.

Bozen, Wien: folio 2024. 257 Seiten. EUR 25,-. ISBN 978-3-85256-896-6.

Kurt Lanthaler, geb. 1960 in Bozen/Bolzano, lebt seit 1987 in Berlin.

Renato Cesarini, geb. 1906 in Senigallia, starb 1969 in Buenos Aires.

Helmuth Schönauer 04/05/24



GEGENWARTSLITERATUR 3359

Von Arschlöchern, weißen Fahrrädern, Scheißfilmen und Zebrastreifen

Dem Phänomen Pop-Kultur muss wissenschaftlich naturgemäß anders begegnet werden als kulturellen Flows mit oft Jahrhundertealten Aufgüssen. Wer Pop-Kultur begreifen will, muss in die Tasten ihres Vokabulars greifen, weshalb der Titel von „Arschlöchern und weißen Fahrrädern“ vollkommen stimmig und authentisch ist.

Wolfgang Pollanz hat für seine „Anmerkungen zur Pop-Kultur“ 17 Aufsätze ausgewählt, die er aus seiner Warte für die sogenannten A-Seiten der Essays hält. In seinem „Versuch über die B-Seite“ berichtet er von dem Marketingdesaster, das seinerzeit die Einteilung in A-und B-Seiten über den Musikmarkt gebracht hat. Erst als man dazu überging, zwei A-Seiten zu pressen, konnte halbwegs Gerechtigkeit unter den gepressten Songs verbreitet werden. In diesem Lichte glänzen die ausgewählten Texte aus den Jahren 2006 bis Gegenwart jetzt alle als A-Seiten. Man könnte das Konvolut auch als Jubiläums-Pressung zum Siebziger des Pop-Künstlers Wolfgang Pollanz titulieren.

Der erste Teil des Titels geht auf den wundersamen Aufsatz „To Be an Asshole …“ zurück, worin enträtselt wird, warum manche Pop-Künstler in den sechziger Jahren sich ausgesprochen fies und böse dargestellt haben. Zum einen geht es auf den Druck zurück, mit dem die Pop-Kultur einem Vulkan ähnlich ausgebrochen ist ohne zu überlegen, welche Schäden ihre Lava anrichten wird. Zum anderen handeln für diese eruptive Kulturhaltung viele Opfer einer repressiven Eigenerziehung. Sie haben es oft für normal angesehen, egomanisch den eigenen Arschlochismus zu verbreiten. Als Paradebeispiel für diesen Ungustl-Typ gilt allgemein John Lennon.

Die Beiträge über Pop-Kultur sind aus der Sicht eines Betroffenen heraus komponiert. Das Wissen um die Biographien, die Textzitate der Songs und die eleganten Kurven des Marketings ergeben nur dann einen Sinn, wenn sie als konkrete Rezeptionserfahrung „einschlagen“.

Eine Urszene dieser Pop-Erleuchtung erlebt der Autor in seiner Zeit im Grazer Internat, als sich eine Handvoll Zöglinge mit kargem Taschengeld jeweils Scheiben kauft, die nach der nachmittäglichen Studierzeit auf einem erbärmlichen Plattenspieler abgewickelt wurden. Das Musik-Hören wird zu einem sakralen Ritual, jeder darf zuerst die A und dann die B-Seite auflegen, und allmählich entsteht sie, die Pop-Kultur.

Aus dieser Zeit stammt auch die Erfahrung, dass es verwerflich ist, jemanden als dumm zu bezeichnen, nur weil er diese oder jene Musik bevorzugt. Selbst der große Frank Zappa hat seinen Song „Dumb all over“ über die politische Haltung des Publikums geschrieben, nicht aber über den Musikgeschmack. Er selbst habe für sich, vom Prostatakrebs tödlich gezeichnet, sein Rauchen als Dummheit bezeichnet, freilich mit der Erkenntnis: „Es wäre dumm, die Dinge jetzt noch ändern zu wollen.“ (28)

Mit einer gewissen Sorte Dummheit hat auch Klaus Kinski zu kämpfen, wenn er Scheißfilme für ein Scheißpublikum machen muss. Der Autor besucht Jahre nach dessen Tod eine Ausstellung mit Filmdevotionalien und kommt zum Schluss, dass er Klaus Kinski in seiner Jugend nur einmal ergreifend wahrgenommen hat, als dieser nämlich ein Villon-Gedicht liest und mit einem einzigen Atemzug so lange Poesie-Zweige auseinander drückt, bis die Pop-Kultur zum Vorschein kommt: „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund / ich schrie mir schon die Lungen wund / nach deinem weißen Leib.“ (99)

Ein extravaganter Spät-Zweig entsprießt dem legendären Surf-Beach-Sound aus Kalifornien, als die Musik der Beach Boys zur Meublage stilisiert wird. Im neuen Design umrunden Comic-Figuren eine Wohlfühlmusik, die unter dem Titel „Yacht-Rock“ fungiert. Dahinter steckt die Idee, dass man wirklich exquisite Yachten mit einer passenden Musik ausstatten muss, die es nur auf dieser einen Yacht gibt. In diesem Fall wird Pop also zum elitären Singulär-Erlebnis.

Oft versteckt Wolfgang Pollanz seine Botschaft auch in einen Mix, der aus scheinbar zufälligen Biographien zusammengestellt ist. So erscheinen ihm Bob Dylan, Thomas Pynchon und Serge Gainsbourg aus einem Guss die Popkultur darzustellen, weil er sie selbst in einem kompakten Hörerlebnis erstmals erfahren hat.

Da wurden die Songs von Bob Dylan im gymnasialen Kulturkreis meist der politischen Sprengkraft des Vietnamkriegs entkleidet und als Cover-Songs für Feldmessen aufbereitet. Von Serge Gainsbourg wurde nur sein Buch „Die Kunst des Furzens“ zitiert, wo jemand furzt, um damit abzulenken vom Gestöhne des Songs „Je t’aime“. Und Thomas Pynchon schließlich führt den Autor in seine erste Schreibkrise, da hat er noch keine Zeile geschrieben. Am Buch „Die Versteigerung von No. 49“ hat sich Wolfgang Pollanz schließlich aufgerichtet und weiterentwickelt. Wer genau hineinliest, merkt, dass mit dieser Erzählanstrengung Thomas Pynchon an manchen Tagen erreicht und überschritten wird.

Vom Furz zum Pynchon, das ist der literarische Teil der Pop-Kultur, die einsichtig bunt ist wie der Zebrastreifen der Abbey Road, die natürlich entsprechend gewürdigt ist im Album „Von Arschlöchern, weißen Fahrrädern, Scheißfilmen und Zebrastreifen.“


Wolfgang Pollanz: Von Arschlöchern, weißen Fahrrädern, Scheißfilmen und Zebrastreifen. Anmerkungen zur Pop-Kultur. ( = Pop! Goes the Pumpkin, Band 10).

Wies: Edition Kürbis 2024. 140 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-900965-63-1.

Wolfgang Pollanz, geb. 1954 in Graz, lebt in Wies.

Helmuth Schönauer 24/04/24



GEGENWARTSLITERATUR 3355

Tageswörter

Manche literarische Genres gleichen einer App, mit der nach einer ausgeklügelten Methode der Alltag der Lesenden erleichtert, dokumentiert oder imaginiert wird.

Jörg Reinhardt stellt unter der Bezeichnung „Sammlung“ eine literarische Kompositionstechnik vor, mit der sich über das Tagebuch hinaus der Alltag „beschlagworten“ lässt; und umgekehrt kann man mit diesen Schlagwörtern dem Alltag einen postumen Sinn verpassen. Die Methode heißt schlicht „Tageswörter“.

In der Gebrauchsanweisung für seine Print-App beschreibt der Autor, wie es spielerisch zu diesem Projekt gekommen ist, wie er zaghaft im Selbstversuch daran gearbeitet hat, und wie das Ganze überzeugend nach einem Jahr vollendet werden konnte, sodass er die „Methode Tageswörter“ auch einem gewissen Fachpublikum vorstellen möchte. Das Fachpublikum besteht in diesem Fall aus Alltags-Usern, die oft ein Leben lang damit beschäftigt sind, das eigene Ich in der jeweiligen Geschichtsmaterie zu dokumentieren.

Die Sammlung ist als Beschlagwortung-Lexikon ausgelegt, chronologisch geordnet versammeln sich unter fetten TAGESWÖRTERN Petitessen, Binsenweisheiten, Wunder, Irritationen oder falsch rezipierte Nachrichten. Die Texte sind jeweils mit Ortsangabe und Datum versehen, wobei die Jahreszahl fehlt, damit sich das Unterfangen als immerwährender Kalender lesen lässt.

ZUFÄLLIG // war ich gerade nicht zuhause, als das Tageswort vorbeikam. // Maspalomas, 2.2.“ (19)

Die Leser könnten diese Einträge noch mit individuellen Rezeptionsangaben vervollständigen, indem sie etwa den Notizen ihre eigene Orts- und Zeitangabe hinzufügten. Oft wird nämlich übersehen, dass nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen zeit- und ortsgebunden sind.

Die Hauptmotive sprießen aus den Clustern Jahresablauf, Jahreszeiten, vorgeschlagene Gedenktage, Reisen, Random, Abbreation.

Vor ähnlichen Problemen stehen üblicherweise Journalisten, wenn sie für den lockeren Teil des Mediums Themen abarbeiten müssen. So sind natürlich die Geburtstage diverser Personen ein gefundenes Fressen, aber auch ausgegebene Tages-Mottos wie Welttag des Buches oder Hundes haben große Chancen, als Tageswörter Verwendung zu finden.

Die Verbindung diverser Losungs-Worte ergibt denn auch eine individuelle, meist schräge Geschichte. „Neujahr“ geht in „Scheiß-Tag“ über, dieser wird bald darauf als „belanglos“ qualifiziert.

Als das recherchierende Ich zu einer Dienstreise nach „Masapalomas“ aufbricht, wo neben dem Stadt-Kleinod „Lindow“ ein Großteil der Einträge spielt, kommt es mit Begriffen wie „Flughafen“ und „bodenständig“ in Berührung.

Eine ziemlich fiktionale Begriffskette ergibt sich in der Mitte des Jahres aus „Pickel“, „Bibliothek“ und „Sargdeckel“, die auf eine spezielle Sicht auf das Bibliothekswesen hindeutet.

Ein „Tagtraum“ lässt sich unter „komisch“ wie ein Comedy-Festival mit „Bücherwunsch“ fortlesen. Und letztlich wird der Buchtitel selbst mit einem eigenen Eintrag verankert.

TAGESWÖRTER // Titel des Buches eines unbekannten Autors, der es originell fand, jeden Tag ein Wort auszuwählen und irgendetwas dazu zu schreiben, ein ganzes Jahr lang. Der Mann hatte offensichtlich viel Zeit oder Langeweile. Oder beides. Vielleicht aber auch nicht alle Tassen im Schrank. // Lindow, 2.12.“ (186)

Ähnlich wie bei einem Lyrik-Band liegt die Kraft der Tageswörter in der Dynamik des Lesens. Jeder Lektüre-Vorgang zieht eine eigene Beobachtungsgeschwindigkeit nach sich. So lassen sich Bonmots relativ rasch überfliegen wie Schriftzüge im öffentlichen Raum, andererseits sind Texte über „Wanderschaft“ oder „Barbarei“ durchaus zu Essays ausgebaut, die entsprechende Aufmerksamkeit verlangen.

Die Tageswörter verlangen danach, spielerisch in der Gruppe gelesen zu werden, sie lassen sich als leichte Einstiegsdroge für literarische Gespräche zum Kaffee benützen.

Jemand gibt das Tageswort aus, wem etwas dazu einfällt, der gibt seine Assoziation zum besten, ehe schließlich der Originaltext von Jörg Reinhardt gewürdigt wird.

VOREILIG // Bevor man den Ausgang sucht, sollte man den Eingang gefunden haben.“ // Lindow, 10.10.“ (150)


Jörg Reinhardt: Tageswörter. Eine Sammlung.

Klagenfurt: Sisyphus 2024. 190 Seiten. EUR 13,-. ISBN 978-3-903125-87-2.

Jörg Reinhardt, geb. 1954 lebt in Berlin.

Helmuth Schönauer 08/04/24



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2397

Zeitalter ohne Bedürfnisse

Wenn keine Bedürfnisse mehr da sind, hat man sie entweder selbst erfüllt, oder sie sind von sich aus abgehauen und haben die bisherigen Bedürfnisträger entleert zurückgelassen.

Erwin Uhrmann nimmt gleich vom Titel an die Leser in die Pflicht. Er stellt zwar ein Ambiente für Utopie und Dystopie zur Verfügung, die Text-User aber müssen je nach ihren Bedürfnissen sich den Roman selbst ausmalen. Das ist übrigens bei allen Romanen üblich, die nicht ein vorinstalliertes Klischee abhandeln.

Zeitalter ohne Bedürfnisse“ lässt also ein paar Figuren auftreten, die wie beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“ nach einer selbst-gewürfelten Zahl ein paar Schritte machen, ehe sie wieder vom Feld geworfen werden. Das Spielfeld selbst ist seltsam allgemein ins Auge gefasst als eine Landkarte ohne irgendwelche Ortsangaben. Ab und zu fallen geographische Begriffe wie Himmelsrichtungen, beispielsweise Wien, Polen oder Meer, es ist jedoch den Lesern überlassen, wie sehr sie diese Angaben mit eigenen Bildern unterlegen.

Eine zeitlose Gegenwart hat den Kontinent erfasst, die Menschen haben keine Bedürfnisse mehr, es ist ihnen gelungen, das Essen einzustellen, indem sie in den „Ausgleich“ gegangen sind. Wenn die Suche nach Nahrung wegfällt, bleibt für die Menschheit nichts mehr zu tun, weshalb die meisten bedürfnislos in der Stadt herum taumeln, keinen Bock mehr auf Kinder haben, und die anfallenden Verstorbenen möglichst schnell irgendwo zur Endlagerung abschieben.

Als dünner Handlungsstrang, an dem ein nichtiger Überlebenskampf aufgewickelt ist, stellt sich die Aufzucht eines Findelkindes durch die Heldin Silvia vor. Diese findet eines Tages ein Bündel Mensch am Wohnungseingang und adoptiert es spontan, indem sie es Darko nennt. Der Junge wächst ohne Artgenossen, Bildung oder Sinn heran, er saugt das bisschen Welt ein, das ihn umgibt, und pendelt in der Siedlung zwischen Unterwelt und Oberwelt herum.

Zum Zentrum mausert sich dabei der Kerzenmarkt heraus, auf dem es offensichtlich Licht zu kaufen gibt, während das Elektrizitätswerk am Rande der Stadt nichts mehr produziert. Dennoch arbeitet Silvia in diesem Werk weiter vor sich hin, denn ohne Bedürfnisse ist der Output von Leistung obsolet geworden. Am Kerzenmarkt steht offensichtlich eine Kathedrale mit einem Kardinal herum, der keine Erklärung des Weltgeschehens weiß und zu einer Gebetsfigur wird, der man die letzten Sorgen umhängt.

Darko macht sich allmählich selbständig und sucht Bekanntschaft mit den nächstbesten Menschen, die ihm in diesem chaotischen Umwelt-Design über den Weg laufen. Er lässt sich Begriffe und Ansichten von früher erzählen, er hilft mit, zwei Tote durch die Stadt zu tragen und an einem provisorischen Endpunkt abzulegen. Nach einer unruhigen Nacht mit Traum- und Alptraum-Spots macht er sich auf den Weg hinaus aus der Stadt.

In einer Gegend aus Treibsand, brüchigem Ufer und See endet die Tour bedürfnislos. Die Wörter, die über der Szene liegen, scheinen aus einer früheren Zeit zu stammen, als die Welt noch mit einer anderen Semantik hinterlegt gewesen ist.

Darko legte sich in das feine, klebrige Gemisch aus Erde und Sand und überlegte, wie er die drei [Mitabenteurer] überzeugen konnte, zurückzukehren im Wissen um diesen weiten, leeren Raum. Mehr musste er nicht wissen. In der Stadt zu sein, mit den anderen, einfach dahinzuleben. Darin, verstand Darko, lag aller Sinn.“ (206)

Die Offenheit der Romankomposition lässt einen bei der Lektüre hinaus driften aus dem Text und andocken an angelesene Muster.

So könnte man das Buch als Bildungsroman lesen mit einem Ende aus der Romantik. Als der Held das Nichts sieht, hat er alles gesehen und kann heimkehren.

In einer anderen Aberration lassen sich Katastrophenromane, Kriegsdesaster oder Failed-States-Geschichten andocken. Wenn die Helden des Romans den Hunger abgestellt haben und wortlos durch die lichtlosen Keller einer imaginierten ukrainischen Stadt tappen, wird die Atmosphäre einer kaputten Welt schier unerträglich.

Und weil im Roman ständig ein desaströser Wind (Dessert-Wind) weht, liegt es in der Vorstallung nahe, an einen Klima-Roman zu denken, wenn das alles gleichzeitig auf Sendung ist, was momentan noch als Wetterwarnung ausgegeben wird.

Alle Abschweifungen führen dann aber doch zu der interessanten These, wonach es zum Leben keine Bedürfnisse braucht, weil diese bloß Ablenkung sind von der puren Existenz. Auch im Zeitalter der Bedürfnisse gilt die Binsenweisheit der Evolution: Der Mensch lebt so lange, bis er tot ist.

Der Letzte der Menschheit nimmt diese Erfahrung mit ins Grab, während er im Erinnerungsschlamm liegt und ins Leere schaut wie Darko.


Erwin Uhrmann: Zeitalter ohne Bedürfnisse. Roman.

Innsbruck: Limbus 2024. 206 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-99039-247-8.

Erwin Uhrmann, geboren 1978, lebt und arbeitet in Wien.

Helmuth Schönauer 05/04/24



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2399

22 Bahnen

Manchmal wird der Literatur ein Programm übergestülpt, das ihre Kundschaft zuerst abarbeiten muss, ehe sie sich dem eigentlichen Text zuwenden darf. So sind es oft Literaturpreise, die vorerst in Marketing-Manier den Text zuschütten, ehe er sich verspätet der Leserschaft erschließt. Gerne gesehen ist Literatur auch als Prüfungsstoff, wenn in sadistischer Anwandlung Prüflinge gequält und für die Literatur verloren gemacht werden. Eine Radikal-Methode, eine unwissendes Publikum mit Literatur zu beträufeln, besteht schließlich in diversen Kommunal-Aktionen, wenn etwa die Bewohner einer Kleinstadt mit einem Gratis-Roman beglückt werden. Auch hier steht das Programm der Stadt vorerst über dem literarischen Text, der als solcher erst freigeschaufelt werden muss.

Caroline Wahl wird gerade als Shooting-Star des vergangenen Jahres ausgerufen und darf als Höhepunkt ihrer jungen Karriere die Einladung für „Innsbruck liest 2024“ genießen. Mit ihrem Bestseller-Roman „22 Bahnen“ tourt sie nicht nur durch sämtliche literarische Einrichtungen der Alpenherz-Stadt, sondern in 10.000 Exemplaren turnt sie sie sich auch in die Herzen der Lesenden in Innsbruck.

Der Plot des Romans könnte als Musterschicksal einer Innsbrucker Seele gelten. Die Mathematikstudentin Tilda arbeitet prekär als Kassiererin im Supermarkt und schreibt ihre Masterarbeit. Zu Hause ist die Hölle los, wenn ihre zehnjährige Schwester Ida von der betrunkenen Mutter malträtiert wird. Als ritualisierte Überlebenseinrichtung erweist sich das Schwimmbad, in dem die Protagonistin so oft es geht ihre „22 Bahnen“ herunterschwimmt, bis sie in Trance ist.

Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege, dann denke ich, dass ich das Ganze da draußen noch lange aushalten kann. Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draußen stürzen. Gegen meine Mutter, gegen ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida.“ (15)

Der Roman kümmert sich aus der Ich-Perspektive um das Durchschlängeln zwischen Banalitäten, Alltagsfloskeln und Zufälligkeiten. Die Dialoge sind knapp, dabei werden Standardsätze ohne Überraschung miteinander verknüpft. Es entsteht Sprachlosigkeit, auch wenn ab und zu ein Mund offensteht.

Leitmotivisch taucht regelmäßig der Vorgang des Kassierens auf. Die Helden darf nicht in die Gesichter der Kunden blicken, damit diese „ungeniert“ ihre Produkte kaufen können. Die einzelnen Artikel werden zu einem Stillleben des Konsums arrangiert, während sie den Scanner überschreiten. Am Schluss wird eine Summe in den Raum gestellt und es gibt einen kurzen Blickkontakt.

Ähnliches geschieht beim Durchpflügen der Bahnen, wenn ab und zu auf den Nebenspuren Körper sich durchs Wasser wälzen, ehe sie außer Atem dem Becken entsteigen und den Tanz der Körper mit dem Wasser wortlos beenden.

Zuhause dient das Ritual des Tischdeckens dazu, den Alkohol-Spiegel der Mutter festzustellen. Solange sie die Teller auf den Tisch bringt, glaubt sie an eine vage Zukunft. Läuft das Arrangement aus dem Ruder, wird die Mutter zum „Monster“, vor dem sich die Töchter wegducken und in ihren Zimmern einsperren.

Diese drei „Kampffelder“ der Heldin sind auch in Innsbruck häufig anzutreffen: Sport, Universität, psychische Entgleisung sind die Begleitmusik für ganze Generationen, die sich letztlich routiniert und wortlos von einem Geschäft zum nächsten schlängeln, um durch irgendeine anstrengende Sportart schließlich „in die Bahn“ zu finden.

Da im Roman die Kleinstadt nicht näher beschrieben ist, kann die fiktive Stadt flugs über die Lesestadt Innsbruck gestülpt werden.

Gibt es überhaupt eine Dynamik in Richtung Zukunft, Sinn oder Optimismus?

Im Roman nimmt die Heldin ein Stipendium nach Berlin an, wo sie einen akademischen Titel als Ausweg aus dem Desaster zu erringen erhofft. Ihre zehnjährige Schwester hält sich mit Lesen, Schulwechsel und vorzeitigem Erwachsenwerden über Wasser.

Mutter überlebt einen Suizid-Versuch, ist aber nicht imstande, eine Therapie anzugehen, sie setzt auf „Aussitzen“ des Alkoholproblems.

Und die Erzählerin überlebt einen Multi-Kollaps des Körpers durch die Sportfreundschaft mit einem russischen Migranten. Er weiß, dass man auf jeder Bahn seine Meter machen muss, wenn man einmal ins Wasser geworfen ist. Der Rest ist Schweigen während einer akademischen Umarmung.

Caroline Wahl liefert mit ihren „22 Bahnen“ ein fast wortloses Stück Kleinstadtleben auf dem Weg zum Überleben. Der Roman passt wunderbar ins Konzept von „Innsbruck liest“, das immerhin ins zwanzigste Jahr geht. Die Lektüre verschafft eine kleine Atempause beim sinnlosen Sporteln, Studieren oder Konsumieren. Und während man über den Roman diskutiert, spendet er auch passende Wörter voller Ironie und Schalk für das Leben in dieser Kleinstadt.


Caroline Wahl: 22 Bahnen. Roman. ( = Innsbruck liest 2024).

Köln: DuMont 2023. 204 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-8321-6803-2.

Caroline Wahl, geb. 1995 in Mainz, lebt in Rostock.

Helmuth Schönauer 30/04/24