Buch in Pension – Rezensionen 2023|00


Günter Eichberger: Weltverlust.

Alain Finkielkraut: Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung.

Philipp Hager: Die Ewigkeit ist vorbei. Gedichte.

Christine Hochgerner: Nicht nur Hasen schlagen Haken. Erzählungen.

Greta Lauer: Gedeih und Verderb. Roman.

Selma Mahlknecht: Fö – Zernezer Feuer. Eine Familiensaga.

Josef Oberhollenzer: Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit.

Jörg Piringer: günstige intelligenz. hybride poetik und poetologie.

Armin Thurnher: Anstandslos. Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege.


GEGENWARTSLITERATUR 3174

Weltverlust

Die gängige Weltformel lautet: Wer Visionen hat, braucht einen Arzt. In der Literatur freilich gilt die Formel auch umgekehrt: Wer auf einen Arzt wartet, kriegt Visionen.

Günter Eichberger erzählt in heroisch-depressiver Form von einem, der auszieht, sich der Welt zu entledigen.

In der Bildung braucht es meist ein Initial-Erlebnis, das einem den berühmten Stoß gibt, etwas aus sich zu machen. (Beim Computer nennt man diesen Vorgang booten.) Tonnen von bürgerlichen Erziehungsromanen berichten davon, wie Helden ein Erweckungserlebnis haben, und in die Welt hinausziehen. Beim „Grünen Heinrich“ (Gottfried Keller) ist es die Mutter, die dem Kind die Koffer packt, beim „Taugenichts“ (Joseph von Eichendorff) hat eines Tages der Vater die Schnauze voll, und schickt den Sohn samt Geige weg von seiner Mühle.

Bei Günter Eichberger hängt zu Beginn des Romans „Weltverlust“ die Mutter an einem Strick aus dem Fenster: Zeit für den Ich-Erzähler, den bedrückenden 178-Seelen-Ort zu verlassen, wodurch gleich zu Beginn die Dimension der Welt des Helden umrissen wird.

Die Kapitelüberschrift „Aufbruch“ ist vielleicht sehr großzügig gewählt, denn der Held ändert nur kurz die Brennweite seiner Phantasie und begibt sich ins Wartezimmer eines Arztes.

Dieses Wartezimmer stellt man sich am besten als eine Art Vorhof zur Welt dar, es hat höllische Züge, wenn man auf die Hölle wartet, und himmlische, wenn man die Welt in Richtung nach oben verlassen möchte.

So sind auch die evozierten Bilder doppeldeutig. Wenn Gondeln auf der Mur fahren, bedeutet es, dass Graz Venedig ist, oder Venedig trostlos wie Graz? Andererseits schiebt sich flugs eine neue Identität ins Eigenbild und überlagert alles, was mühsam aufgebaut worden ist. Für einen Augenblick entschwindet der Erzähler als Untoter nach Istanbul.

Aus diesen Identitäten heraus überlegt der Wartende Sätze, die er dem Arzt erzählen könnte. Wenn dieser vielleicht fragt, „was uns fehle“, so könnte die Antwort lauten: „Die innere Sonne fehlt.“ (15)

Da der Arzt noch unbekannt ist, sind auch die möglichen Sätze noch unerschlossen, die vielleicht fallen werden. Wahrscheinlich wird er das Wort „Gesichte“ unterbringen, was wie die Gondeln auf der Mur vieles bedeuten kann.

Wie überall auf der Welt ist ein Buch besonders im Wartezimmer ein ideales Mittel, sich auf die Welt vorzubereiten. „Und jetzt wende ich mich wieder meinem Buch zu. Es wird mich aus diesem Wartezimmer befreien. Es wird mich von der Welt befreien. Es heißt schlicht Weltverlust.“ (23)

Dieses Wartebuch erweist sich schon auf den ersten Seiten als Zauberbuch. Mit den Krallen eines postmodernen Romans verschlingt es den Leser, während dieser glaubt, ein Buch zu verschlingen. Der Weltverlust ist somit der Titel des Buches, der Zustand, der beim Lesen für den Leser eintritt, und das finale Forschungsergebnis zu einer Versuchsanordnung, in der die Welt zum Verschwinden gebracht werden soll.

Für die Lektüre bedeutet es, dass die Welt auf allen Ebenen verlorengeht. Daher sind zu Beginn probehalber alle tot. Während sich im Warteraum normale Menschen Geschichten erzählen, die oft in die Untiefen der Verwandtschaft hineinragen, sind beim Wartezimmer-Ich alle tot und die Finanzen verworren. In Spanien treiben sich allerhand Gläubiger herum, die als Gläubige einer Pilgerreise gestartet sind. Der Leser reagiert mit bodenloser Trauer, weil ihn offensichtlich zwischen den Seiten „der Esel verlassen hat“ (35), den er sich einst vermutlich zusammen mit Sancho Panza angelesen hat.

Beim Aufblicken aus dem Buch tut sich eine Stimmung auf, als hätte der Arzt schon mit ihm gesprochen und er hätte schon den befreienden Satz gesagt, dass er von Berufs wegen müde sei. „Meine Arbeit besteht darin, an meinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Nach drei Stunden, in denen ich auf den leeren Bildschirm gestarrt habe, stehe ich zufrieden wieder auf.“ (39)

Aber beim Hineinschauen in den Text vom Weltverlust eruptieren schon die nächsten Bilder und verformen sich zu grotesken Anekdoten, wenn jemand erzählt, dass er die Begriffe „Heirat“ und „Weltkrieg“ in der gleichen Hirnlade gespeichert hat.

Sollte der Arzt darauf eingehen, würde der Klient bestätigen, dass ihn einmal durchaus die Liebe angesprochen habe, aber er weiß nichts Genaueres mehr. Vielleicht könnte man diese Konstellation „angesprochen werden von der Liebe“ und „Vergessen“ zu einem Syndrom ausbauen, das eine Wehrdienstbefreiung nach sich ziehen könnte, (47)

Auch wenn die Vorfahren schon alle für tot erklärt sind, tauchen sie doch auf wie seltene Fußballstars oder Musiker. Ja, Maradona ist deutlich zu erkennen. „Maradona ist kürzlich gestorben. Seit er mir einen Ball an den Kopf geschossen hat, ist er mein Freund.“ (71)

Und über Bob Dylan gibt es die Vermutung, dass er aus der Rippe eines Fans geschnitten worden ist. „Er ist eine Assoziationskette, die irgendwann bricht.“ (81)

Der Leser sitzt im „Weltverlust“ und liest und dichtet und assoziiert, dass die sprichwörtlichen Fetzen fliegen. „Ich habe einen Satz gezüchtet, der immer weiterwächst. Er ist jetzt schon hundert Seiten lang. Und ein Ende ist nicht abzusehen.“ (85)

Wie in sauberen Bildungsromanen üblich, muss die Klammer des Erzählens hinten geschlossen werden, wenn man sie vorne aufgemacht hat.

Der Held ist wieder im Wartezimmer. „Ich lege das Buch aus der Hand und vergesse augenblicklich, was ich gelesen habe.“ (91)

Vielleicht sollte noch ein bisschen was vom Äußeren erzählt werden, in dem der Erzähler sitzt, wenn er sich über das Wartezimmer hinausdenkt. Irgendwie hat alles mit Aussichtslosigkeit zu tun, es herrscht eine Stimmung, die man mit dem Wort „Graz“ umschreiben könnte. „In der Mur fließt immer noch der Harn meiner Ahnen.“ (93)

Günter Eichberger erzählt großes Kino mit einem Mega-Plot: Nirgendwo ist die Breitbandphantasie so episch wie in einem Wartesaal, in dem man ohne konkrete Diagnose sitzt wie ein Zeuge, der nichts gesehen hat. Der Weltverlust ist vielleicht eine Therapie, welche die Welt selbst anwendet, um sich vor nervigen Patienten zu schützen.


Günter Eichberger: Weltverlust.

Klagenfurt: Ritter 2023. 96 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-85415-654-3.

Günter Eichberger, geb.1959 in Oberzeiring (Steiermark), lebt in Graz.

Helmuth Schönauer 06/03/23



GEGENWARTSLITERATUR 3178

Vom Ende der Literatur

Wenn das Ende der Literatur ausgerufen wird, gibt es der Leserschaft einen Stich ins Herz, wie wenn jemand den Weltuntergang exakt terminisiert hätte. Andererseits erfährt die Lese-Apokalypse durchaus Zustimmung. Denn so, wie die Literatur aktuell beisammen ist, wird sie es nicht mehr lange schaffen, würde Nestroy sagen.

Alain Finkielkraut wird dem deutschsprachigen Publikum mit einem unkonventionellen Verglich vorgestellt. „Er ist der Peter Sloterdijk Frankreichs.“ Sein durchkomponierter Abgesang vom Ende der Literatur ist aus mehreren Essays zusammengefügt, die letztlich auf der These aufbauen, dass wir Teile unserer verschriftlichten Kultur für sakrosankt halten müssen, damit uns nicht das Wertesystem um die Ohren fliegt.

Am Beginn ist daher eine Schlüsselszene aus Marcel Prousts Roman „Recherche“ aufgeführt, worin der Held Swann einer Abendgesellschaft von einer Leseerfahrung berichtet, die ihn sehr erfreut hat. Eine bockige Neoadels-Familie durchbricht darin die strenge Etikette, indem sie beispielsweise den Kindern den Vortritt beim Betreten eines Raumes gewährt.

Am Tisch bei Swann sitzt eine aufgeregte Mademoiselle Céline, die wütend über diese neuen Rituale herfällt und es sich verbittet, dass in der Literatur von solchen entwürdigenden Neuerungen berichtet wird.

Diese kleine Szene dient Alain Finkelkraut als Unterstützung seiner These, dass eine große Sache ein kleiner Schas sein kann, wenn sich Zeit und Ort für die Rezeption verändert haben.

Auseinandersetzungen, die wir momentan über Gendern, Migration und Culture Clash führen, sind letztlich ein aufgeregtes Abendessen mit mehr oder weniger angekifften oder sonst wie keifenden Personen.

Einen Schwerpunkt des Essays bildet die Anfeindung durch Feministinnen, wie sie dem späten Philip Roth widerfahren ist. Im Zusammenhang mit der MeToo-Bewegung wird alles in Frage gestellt, ja geradezu verboten, was eine Rest-Ironie der Figuren beinhalten könnte.

Der ironische Master-Roman über den „menschlichen Makel“ (The Human Stain, 2000) ist, wenn man Metaebene, Humor, und biologische Hinfälligkeit der Männlichkeit abzieht, ein gefundenes Fressen für jene, die genau wissen, wer über welches Thema in welchem Stil zu schreiben hat.

Wegen seiner Grandezza, mit der Philip Roth Themen ins Lächerliche zu führen weiß, eignet er sich bestens als Reibebaum für alle zeitgeistigen Diskussionen. Selbst der Tod 2018 kann die Meute nicht einbremsen, die noch immer militant über Teile seines Werkes herfällt und dieses fallweise ächtet und aus den Regalen verschwinden lässt.

Das Ende der Diskussionskultur führt fast automatisch zum Ende jener Literatur, die jahrhundertelang als letzte Instanz für unlösbare Fragen angesehen wird. „Man versteht überhaupt nichts mehr, weil man alles verstehen will.“ (197)

Den meisten Strömungen ist es gemein, dass sie in ihrer Ausschließlichkeit die gerade am Markt befindliche Komplementärmenge zum eigenen Blickwinkel vernichten und verbieten wollen. Wenn letztlich alles verboten ist und eine Ungeheuerlichkeit wird, bleibt nichts mehr, was man schreiben, aufführen oder lesen könnte.

Unter diesem Aspekt der Radikalisierung werden gewichtige Fragen der Kunst und Literatur der letzten Jahre zur Sprache gebracht. Darf man die abgebrannte Notre Dame überhaupt aufbauen, wenn sie nicht mehr authentisch nachgebaut werden kann? Darf jemand über die Problematiken eines anderen schreiben, wenn er nicht in seiner Haut steckt? Dürfen auf der Bühne Menschen Rollen übernehmen, die sie im sonstigen Leben verachten?

Die Aufgabe der Literatur, Schicksale probehalber zu entwickeln und darüber zu debattieren, wird von diesen Strömungen in Abrede gestellt.

Selbst große Bewegungen wie Umweltschutz und Tierliebe sind in ihrer Radikalität längst auf Abwegen, indem sie sich in einen Dogmatismus verwickelt haben, der keinen Inhalt mehr aufweist, sondern nur den Gestus.

Quasi als Traum-Paar aus der guten alten Zeit ist der Essay-Zwilling angelegt: Die Philosophie des Romans / Der Roman der Philosophie.

Ein Besuch beim alten Milan Kundera liefert schließlich versöhnliche Glücksmomente.

Ein Toter, den ich liebe, wird für mich ganz einfach nie tot sein. Ich kann nicht einmal sagen, ich habe ihn geliebt.“ (209) Eine solche Tot-Geliebte könnte dann die Literatur sein. Sie könnte nach dem Ende der Literatur die neue moralische Unordnung besiegen, wie es im Untertitel des Buches heißt.

Alain Finkielkrauts Essay stellt die Phänomene des brutalen Umgangs mit uns, während wir über Literatur und Kunst diskutieren in einen ergänzenden Lichtkegel. Seine Fallbeispiele aus dem französischen Kulturbetrieb, gespiegelt an der unbestechlichen Reflexionswand des Philip Roth, lassen unsere in Berlin, Frankfurt und Innsbruck geführten Rasereien in einem schlampigen Licht erscheinen: Ironie wäre angesagt.


Alain Finkielkraut: Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung. Mit einem Vorwort von Harald Martenstein. A. d. Französ. von Rainer von Savigny. [Orig.: L’après littérature, Paris 2021].

München: Langen-Müller 2023. 220 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-7844-3656-2.

Alain Finkielkraut, geb. 1949 in Paris, lebt in Paris.

Helmuth Schönauer 25/03/23



GEGENWARTSLITERATUR 3179

Die Ewigkeit ist vorbei

Nicht nur Melodien können einem tagelang als Ohrwurm im Kopf herumgehen, auch faszinierend einleuchtende Sätze können sich zu semantischen Schleifen ausdehnen, egal wie richtig oder falsch sie sind.

Philipp Hager ist mit dem Buchtitel „Die Ewigkeit ist vorbei“ eine Art lyrischer Ohrwurm gelungen. Nicht nur, dass der Satz auf alles passt, was an sprachlicher Struktur durch die Gesellschaft schwebt, der Inhalt der „Formel“ relativiert auch das Gesagte und Gehörte, denn nicht einmal auf die Ewigkeit ist Verlass. Sie, die üblicherweise das Zeitmaß aussticht, wird von der Zeit selber überrumpelt und ad absurdum geführt.

Die knapp dreißig Texte sind im Layout eine Kombination aus Gedichten, Notizen und Prosazellen mit hinten offenem Flattersatz. Von den Motiven her gibt es ein starkes Empfindungsfeld aus den Sektoren Lesen und Schreiben, Großwerden als „ewiges Kind“, sowie aus grotesken Einfällen und ordnenden Ritualen, die sich durch den Text schlängeln wie ein Koffer, der nie geöffnet wird. Niemand ahnte, was im Koffer war. (25)

Die Texte „spielen“ in einem Zwischenreich aus Kindheit, Erinnerung und magischer Entrückung. In der Eingangssequenz ist das Lebensprogramm mit einer Reißzwecke an ein Tor geheftet. (7) Der Schlüssel liegt unter der Matte, ein Raum tut sich auf, wie wenn man eine Airbnb-Unterkunft bezieht, dabei ist es der eigene Lebenslauf, der einem mit einer Reißzwecke irgendwo im Intimbereich angeheftet worden ist.

Figuren aus dem Heiligenkalender der Kindheit, diverse Vorbilder und Vorfahren stolzieren einträchtig durch das Gelände, in dem frisch das Glasfaserkabel verlegt worden ist. Die Person fühlt sich fremd und seltsam ertappt, du musst den Schlüssel wieder unter die Matte legen, sagt der Reflex, und das alles hier zu beenden.

Unter dem Titel „Symbiose“ (9) ist von einer idealen Liebesbeziehung die Rede, die schon auf der Säuglingsstation beginnt. Dieses angesprochene Wesen entwickelt sich mit dem lyrischen Ich mit, durchläuft eine ähnliche Bildungskarriere, betreibt die gleichen Laster und ergänzt die Person mit allen Tricks und Ticks, die es zur Vollendung einer Persönlichkeit braucht. Dieses Wesen ist nicht fassbar und ein Konglomerat aus Schutzengel, Mutterersatz, Geliebten und Heilerin; es erscheint manchmal als Hitze, Pulsschlag und Lebenswille. Vielleicht ist es das Feuer, das im ewigen Licht brennt. „Ich habe versprochen, dir Dauer zu geben. / Du mir Hitze. / Wir gehören zusammen.“ (10)

Aus einem ironischen Gefäß gespeist sind jedenfalls jene Texte, die das Schreiben, den Literaturbetrieb und das „Fiktionale“ überhaupt streifen. Der lyrische Erzähler ist zwischendurch so gut drauf, dass er alle Preise gewinnt. (11) An anderer Stelle ist das Kind des Schriftstellers von dessen Deutung der Welt dermaßen beeindruckt, dass es sich zum Lebenswunsch hinreißen lässt: Papa, ich werde Schriftsteller!

Dem ist eine Überlegung entgegengestellt, welche Sprache wohl „die Haut spricht“. (30)

Als Sinnbild für ein tragfähiges Programm wird schließlich das weiße Blatt Papier (66) besungen, auf dem andere Schriftsteller ihre Angst beschreiben, die sie regelmäßig befällt. Das lyrische Ich sitzt ebenfalls vor diesem Stück weißen Nichts und fragt sich, wie andere nur Angst beim Schreiben haben können, wo es doch eine wunderschöne Sache ist.

Vorläufig sind die Texte mit handfesten Dübeln der Erzähltechnik ins Papier geheftet. Wenn der Großvater krank ist, muss es geradezu Herbst sein, Krankheit und Tod halten sich am liebsten im Herbst auf, lautet das literarische Gesetz, das sich seit Jahrhunderten bewährt hat.

Eine bewährte Methode, einen Text verlässlich mit Drive zu beschleunigen, ist die leitmotivische Floskel: Als ich ihn das nächste mal sah. In der Geschichte „Den Ausguss runter“ (51) gehen alle Sequenzen verlässlich den Bach hinunter. Dabei handelt es sich um die Freundschaft zweier an der Musik Interessierter, die sich in der Klassikabteilung eines Tonträgergeschäfts kennenlernen und eine künstlerisch inspirierte Fachfreundschaft eingehen. Jedes mal wenn das lyrische Ich den anderen sieht, hat sich etwas als Sackgasse herausgestellt oder ist sonst wie den Ausguss hinuntergegangen.

Und Tiere können nicht nur in der Raunacht sprechen, sie können auch hellsehen, wenn man sie nur lässt und gut in den Text einspannt, statt sie irgendwelche Karren ziehen zu lassen. In einem kleinen literaturhistorischen Essay wird poesievoll auf den Zusammenhang von Literaturgeschichte und Zoologie verwiesen, beide haben sich ähnlich entwickelt und werden immer wieder in Engführungen miteinander vertraut gemacht. Eine markante Engführung ist das Poem „Hawl“ (1956) von Allen Ginsberg, wo das Geheul aller Sparten von Lebewesen gebündelt wird.

Die Quintessenz dieser Texte und ihre heilende Kraft durch Verwendung der Ewigkeits-Formel wird zuerst in einem Liebesgedicht angekündigt, in dem es mit dem großen Ding noch nicht ganz geklappt hat. „An uns ist nichts von Ewigkeit.“ (20)

In „Die Ewigkeit ist vorbei“ (59) bedauert der Held, dass die alten Landkarten vorbei sind, sie hängen an den Wänden als Schmuck und sind sinnlos. Die Gesetzmäßigkeiten von früher gelten nicht mehr. Der Betrachter lässt einen gewaltigen Appell an alle Startups dieser Welt los: Wir brauchen Entdeckerinnen, Entdecker. Wir müssen uns an Masten fesseln und den Algorithmen aussetzen. Die Geschichte des Odysseus spielt jenseits des Zeitmaßes im digitalen Raum.

Wie im Tagesgeschäft der Publikationen üblich, endet dieser Gedichtband mit einer Danksagung. Aber es werden nicht Kuscheltiere, Frau, Kind oder Lektorin bedacht, hier gibt es endlich einen großen Dank an das Leben selbst, an die Helden vom Rang eines Atlas, der die Welt auf den Schultern trägt, Dank auch an den Erfinder des schönen Satzes: Artists are foreigners everywhere.

Auch der Sisyphus wird ironisch bedankt, dass er verlässlich Hindernisse in den Weg rollt, und einen so vor Nachlässigkeit bewahrt. (78)


Philipp Hager: Die Ewigkeit ist vorbei. Gedichte.

Klagenfurt: Sisyphus 2023. 79 Seiten. EUR 12,-. ISBN 978-3-903125-73-5.

Philipp Hager, geb. 1982 in Scheibbs, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 13/03/23



GEGENWARTSLITERATUR 3181

Nicht nur Hasen schlagen Haken

Die Biographien gewöhnlicher Menschen abseits von heroischen Lebensentwürfen gleichen meist haken-schlagenden Hasen. Dabei sind es die Gejagten selbst, die als Jagdträume hinter sich selbst her sind und sich dabei zu Tode hetzen.

Christine Hochgerner erzählt von diesen Hakenschlagenden Menschen aus der Sicht einer erhaben postierten Beobachterin. Die Erzählposition ist reflexiv in die Vergangenheit gerichtet, indem in straffen Plots die Heldinnen am Lebensende vorgestellt werden.

Aber auch die sogenannte Zukunft kommt nicht zu kurz, die meisten dieser abgebrühten Frauen erwarten sich, wenn es schon sein muss, einen unspektakulären Tod und möglichst nichts mehr mit Männern.

Die 13 Erzählungen sind nicht einzeln über ein Inhaltsverzeichnis zu verorten, sondern als Auswurf eines erzählerischen Mikado-Wurfs zu lesen. Alles greift ineinander über, liegt scheinbar zufällig im Buch herum, geht aber doch auf diese eine Hand zurück, welche die Stäbchen geworfen hat.

Bemerkenswert ist die Namenswahl der Protagonistinnen, sie sind augenzwinkernd einer Polizeiliste für verbrechensgefährdete Namen entnommen. Telefonkriminelle zocken bekanntlich Frauen ab, wenn sie alt klingende Namen haben wie Roswitha, Hannelore oder Hedwig.

Die Geschichten setzen mit der Nennung des Namens und einer bemerkenswerten Bio-Zeile ein. Meist genügt es, dass der Beruf der Eltern in den 1950ern genannt wird, um die Heldin in ihrem Korsett zu zeigen, aus dem sie ein Leben lang nicht ausbrechen kann. So schlagen sich die Frauen dann mit mehr oder weniger Haken durchs Leben, ehe sie innehalten, anhand eines winzigen Aha-Erlebnisses zur Ruhe kommen und ironisch eine Geschichte über sich selbst zu erzählen vermögen. Dabei kommen Formulierungen zum Vorschein, die elegant zwischen Lebens- und Binsenweisheit gespannt sind. „Glück ist ein Geschäft!“ (21)

In der Eröffnungsgeschichte „Drei Frauen“ kommt diese Weisheit in einer wunderbaren Erzählkonstellation zum Ausdruck. Roswitha wohnt im Parterre des Hauses, ihr Mann im ersten Stock. Sie haben sich restlos auseinandergelebt und sich in ihren Etagen einzeln eingerichtet. Dennoch kommt eine Scheidung nicht in Frage, weil Roswitha gelernt hat, dass man hohle Begriffe wie die Ehe aussitzen muss, indem man sie mit persönlichem Lebensstil erfüllt. Außerdem ist Glück ein Geschäft, das man nicht durch Scheidung zerstören darf. Im konkreten Fall freilich verliert der Mann die Nerven, will sich scheiden lassen und mit siebzig noch einmal durchstarten. Roswitha lächelt weise.

Als Lesepublikum ist man von vorneherein auf der Seite der Frauen, die in diesen Geschichten nicht nur den Überblick haben, eine verzwickte Sache auszusitzen, sondern auch jene Zähigkeit, die ihnen einst in der Nachkriegszeit eingeimpft worden ist.

In den Einzelschicksalen zeigt sich individuell gespiegelt jeweils ein Stück Zeitgeschichte. Die Heldinnen, jetzt wohl um die siebzig, sind geprägt von einem Zeitgeist, als für Frauen manche Teile der Öffentlichkeit erst aufgingen und sie zumindest theoretisch mit Berufs- und Statuswahl eine sogenannte Selbstbestimmung erreichen konnten.

Die Realität schaut oft anders aus: In der Geschichte „Mutter-Tochter-Puzzle“ (23) erwartet sich die kränkelnde Mutter wie selbstverständlich, dass sie von der Tochter gepflegt wird, wie wohl sie um die Demütigung der Tochter durch diese Erwartungshaltung Bescheid weiß.

Manche Situationen lassen sich spielerisch lösen nach dem alten Spiel vom „Margariten-Orakel“, wo man so lange an der Blüte zupft, bis entweder „liebt-dich“ oder „liebt-dich-nicht“ herauskommt.

Makaber löst sich eine Verbrechen aus früher Jugend auf. Die Erzählerin sitzt in der Wellness-Zone eines Hotels, während sie ihren unpässlichen Mann auf dem Zimmer liegen lässt. Plötzlich betritt ein alter Kerl die Sauna und beginnt zu schwitzen. Er erkennt sie nicht, aber sie sieht in ihm jenen Vergewaltiger, der ihr ein Kind angedreht hat, das sie nur mit Mühe hat abtreiben können. Das ganze Leben poppt rund um diese Wunde auf und die Erzählerin flieht aufs Zimmer. Später darf sie in der Tages-Chronik des Hotels lesen, dass dieser Sauna-Mann soeben einen Herzinfarkt erlitten hat.

Während die ganze Welt von der Finanzkrise (51) spricht, müssen die Rentnerinnen oft prekär die letzten Cents zusammenkratzen, um sich noch einmal einen Kaffee leisten zu können.

Einer Heldin mit Faible für den Kriminalroman gelingt es, sich so stark mit dem Gelesenen zu identifizieren, dass sie bereit wäre, einen Mord in Rio zu begehen um später im Gefängnis genug Stoff zu haben für einen selbstgeschriebenen Krimi.

Ziemlich banal wirkt auf den ersten Blick ein gemeinsamer Sturz eines gebrechlichen Ehepaars über die Treppe, wobei der Mann tot übrigbleibt. Die Frau ist sich nicht sicher, ob sie nicht doch mit einem Schubser nachgeholfen hat.

In der „letzten Bleibe“ (111) benehmen sich frisch eingezogene Rentnerinnen wie früher in der WG und müssen befürchten, dass sie auf die Straße gesetzt werden. Aber ihnen ist es egal, sie sind jetzt so jung, dass ihnen nichts mehr passieren kann.

Christine Hochgerner kommt in ihren Storys ohne moralisierendes Beiwerk aus: Die Geschichte hat ihre Flinte angesetzt und die Heldinnen aufs Korn genommen! Diese sind gerannt, bis sie außer Reichweite des Zeitgeists zur Ruhe kommen konnten. Jetzt ist Zeit, sich alles zu erzählen, darüber zu schmunzeln, und das Leben mit dieser Handbewegung abzuwinken: „Alles im Lot“. (65) Da gehört auch Schönreden und Schöntrinken zum Programm.


Christine Hochgerner: Nicht nur Hasen schlagen Haken. Erzählungen.

Klagenfurt: Sisyphus 2023. 141 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-903125-75-9.

Christine Hochgerner, geb. 1954 in NÖ, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 27/03/23



GEGENWARTSLITERATUR 3177

Gedeih und Verderb

Brutalen Begriffspaare wie Gedeih und Verderb kann man nur mit noch härteren Gegensätzen begegnen, will man als Individuum seinen persönlichen Touch in die Diskussion des Unglücks einbringen.

Bei Greta Lauer fügt die Heldin dem Titel „Gedeih und Verderb“ gleich ein adäquates Handlungspaar hinzu: Schau – Nimm! Diese beiden Befehle strömen auf eine Ich-Erzählerin ein, die nichts anderes im Sinn hat, als sich in der Welt zurechtzufinden und einen Ausgang zu finden aus dem Dorf-Labyrinth, das sich wie enthemmte Darmschlingen um ihre Psyche gelegt hat.

Schon die ersten Eindrücke sind niederschmetternd. Großmutter zerlegt irgendwelche Vögelchen und schneidet ihnen die Kelchen auf, damit nichts Falsches gezwitschert wird im Dorf. Vielleicht werden auch Nahrungsmittel daraus gemacht, immerhin werden die eingekochten Fasern in Rexgläser konserviert für eine Zeit, wo es keine Vögel mehr gibt.

Eine kleine Richtungsänderung in den Wortbedeutungen hat das Dorf heimgesucht, die Vorgänge sind gespeist aus einer archaischen Paste, mit der das Zusammenleben fixiert werden soll. Aus den Schlachtabfällen entsteht Geschichte, Dorfhäute werden aus Mägen genäht, Innereien in den Wind gehängt als Fahnen, und in den Rexgläsern wird alles gespeichert, was ein Archiv aufzubewahren vermag.

Das Kind beobachtet das alles, „schaut und nimmt“. Vor allem nimmt es Gefühle auf, die leicht zusammenbrechen, sobald man sie in die Hand nimmt. So stirbt aus der Sicht des Kindes Mutter ihren ersten Tod, als sie in das Krankenhaus fährt und als neue Frau mit einem Brüderchen im Arm zurückkommt. Dieser neuen Mutter ist die Heldin jetzt abermals ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. (23)

Die Großmutter empfängt das Brüderchen mit einem schwermütigen Song, der in einer fremden Untergrund-Sprache gesungen wird. Erst als eine Strophe auf Deutsch auftaucht, weiß das Kind, worum es geht „Brüderlein komm tanz mit mir“. (25)

Aus dem Alltag heraus entwickeln sich seltsame Bräuche, die Vergangenheits-lüstern für die Gegenwart ohne Bedeutung zelebriert werden. Der Pfarrer spielt mit seinem Klingelbeutel (36), in den man fallweise Geld einwerfen kann, der aber auch im Umgang mit Knaben ein gutes Spielzeug ist.

Das Kind wird erwachsen und beginnt zu menstruierten, das Blut wird von der Großmutter gesammelt und ins Dorfarchiv im Keller zu den anderen Rexgläsern hinzugesellt. Das Kind sagt das erste Mal „Ich“ (40), als es spürt, dass etwas Großes „mit mir“ geschehen ist.

Auch die Buben leisten ihren Beitrag zur Dorfgeschichte, zu feierlichen Anlässen wird regelmäßig ein Dorfbubenpenis (41) aufgestellt.

Die Erzählweise der Großmutter wechselt in den Ton einer strengen Chronik über, die beinahe erwachsenen Heldin erschrickt über diese Sätze, die als Hammerschläge auf sie einstürzen.

Das Vergangene ist gefrorene Gegenwart.“ (44)

Das Dorf zieht sich in die Häuser zurück.“ (46)

Visite. Die Ärztin sagt: Gut. Ich starre sie an.“ (55)

Teile der Pubertät müssen im Krankenhaus verbracht werden, das Leben im Dorf wäre zu gefährlich. Zu spitz sind zwischendurch die Sätze, die wie Pfähle in die Tage gerammt sind.

Großmutter achtet darauf, dass die Nabelschnur zur Vergangenheit nicht reißt. „Wir steigen in das Archiv hinunter.“ (65) Das kann den nächsten Krankheitsschub auslösen, im besten Fall wird nur ein Rexglas aus dem Keller ins Tageslicht zurückgeholt.

Das Leben verläuft im erstarrten Modus, einmal taucht die „Plötzlich-Formel“ auf, bei denen der Puls der Leser sofort in die Höhe schnellt. „An diesem Tag geschah etwas.“ (67) Aber das ist es dann auch schon, es geschieht nämlich nichts, wenn die Sinnesorgane heruntergefahren sind.

Die Hauptbetätigung spielt sich als regloses Liegen auf der Matratze ab. Es ist schon wieder Klinikzeit und am Gang gibt es eine kleine Begegnung mit einem Jungen, der wohl an einem ähnlichen Schicksal leidet. Sie tauschen Schmuckästchen aus, das sind wertvolle Wörter ohne Sinn.

Wieder in der allgemeinen Welt zurück, stellen sich die Betriebsanleitungen für ein glückliches Leben als sinnlos heraus. „Die Rede schimmelt in meinen Ohren.“ (94) Das Ende wird dramatisch, mit einer Fliege als Hoffnungsschimmer.

Und dann bin ich auseinandergefallen.“ (99) Die Heldin löst sich in Einzelteile auf, das Dorf ist inzwischen verwaist, die Erzählerin geht in den Fluss, wie es in Romanen dieser melancholischen Art üblich ist. Aber der Fluss ist längst gezähmt und eher ein Badeteich. Eine Freundin sitzt am Uferrand des Sommers, und eine Eintagsfliege spricht die Einladung aus, es in der hohlen Hand kribbeln zu lassen.

Greta Lauer erzählt mit klaren Sätzen, wie es letztlich eine völlig andere Sprache braucht, will man als Dorfmensch dem Filz der Vergangenheit entkommen. Eine typisch kärntnerische Dorfanalyse, könnte man meinen, eingerahmt vom „Geometrischen Heimatroman“ des Gert Jonke und dem „Menschenkind“ des Josef Winkler. Und die Erzählkraft der Greta Lauer kann mit den beiden Großen durchaus mithalten.


Greta Lauer: Gedeih und Verderb. Roman.

Wien: Luftschacht 2023. 108 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-903422-19-3.

Greta Lauer, geb. 1990 in Klagenfurt, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 02/04/23



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2360

Heimat kann eine Silbe sein, ein Wort, ein Ausruf, ein Seufzer!

Fö nennt Selma Mahlknecht nennt ihre Familiensaga über ihr neues Heimatdorf im Engadin. „Fö Zernezer Feuer“. In einer Vornotiz wird das Nötigste gesagt. Im Jahr 1872 hat ein Feuer das Dorf zerstört, von den etwa 150 Häusern blieben nur 30 verschont.

Dieses „Fö“ ist einerseits der Tiefpunkt in der Geschichte des Dorfes am Zusammenfluss vom Inn mit dem Spöl. Fö teilt die Chronik ein in ein Vorher und Nachher. Aber Fö erweist sich auch als „die Initialzündung“ für den Aufbau und die Entwicklung des aktuell bestehenden Tourismusorts.

Die Autorin bleibt wohl für immer eine Zugezogene, das erlaubt einen freien Blick auf das Soziotop, obwohl der innerste Zutritt zum Stoff verwehrt bleibt. Denn nach einem uralten Ritus in den Alpen kann die erste Generation nicht heimisch werden.

Anlässlich der Gedächtnisfeier 150 Jahre Feuerkatastrophe wird die Autorin von der Gemeinde beauftragt, eine würdige Geschichte zu schreiben. Sie tut es mit Verve und der beglückenden Erkenntnis, dass so ein Dorf nur die Spitze der Existenz zeigt, der größte Teil liegt wie beim Eisberg unter dem Wasser der Erinnerung. So ist das mündliche Archiv in der Dorf-Tiefe weitaus größer als der Wortschatz, der für die lächerlichen Geschäfte des Alltagslebens gebraucht wird.

Die Sache mit dem rätoromanischen Wortschatz ist in der Saga elegant gelöst, indem die Kapitelüberschriften, Inschriften und in Stein gemeißelten Flüche und Dogmen in jener Sprache getätigt werden, die knapp Zweidrittel der 1500 Einwohner sprechen.

Dabei kommen fünf Generationen zu Wort, denen Wohl auch fünf „Feuerkapitel“ zugeordnet sind.

Mit dem kleinen Glossar im Anhang lassen sich die Schlüsselwörter aus dem Rätoromanischen übersetzen, ohne dass sie ihre Magie verlieren.

Laterne (15), Funke (29), Kerzen (47), Küche als Haus des Feuers (71) und Fackel (92) lassen die Generationen glühend zu Wort kommen. Während bei der Ururgroßmutter vor allem der Geruch von Verbranntem das Leben prägt, bringt die letzte Generation den Angstgeruch vor der Zukunft nicht aus der Nase. Angst vor der Matura, Angst vor der weiten Welt in Zürich, Angst, das Dorf für immer zu verlassen.

Jede Epoche drückt ein spezielles Problem auf die Schultern der Dorfbewohner. Zuerst gilt es, einen Eisenbahnanschluss herzustellen, damit die große Welt in die Ödnis kommt. Neben dem Tourismus kommt dann auch das Frauenstimmrecht, was die Männer ziemlich herausfordert. Noch Jahre später, als die Frauen schon längst im Dorf die Entscheidungen über die Geschäfte im Tourismus fällten, will ein verzagter Ehemann seine Frau im Verzweiflungsrausch entführen, weil sie ja ihm gehöre.

Und ein anderer Mann, der sich mit Kostümen und Verführungen im Grande Hotel auskennt, muss erleben, dass es für das Dorfleben andere Qualitäten braucht, als nur schön und groß daherzureden.

Manche gehen in die Schmuggelszene, andere finden Anschluss an die Bankenwelt. Ins Dorf kommen immer mehr Zugereiste, die freilich in zwei Klassen aufgeteilt sind.

Die Genfer bringen Geld und reißen sich Chalets unter den Nagel, die sie aber leerstehen lassen. Das Dorf wird zu einem Tresor für Fern-Investitoren. Die andere Gruppe kommt aus Portugal und arbeitet prekär. Wenn diese zur Arbeit nicht mehr zu gebrauchen sind, müssen sie ihre Quartiere stracks wieder verlassen.

So entwickelt sich eine feuerfeste Dorfkaste, die zumindest in den letzten 150 Jubel-Jahren gut mit diesem System gefahren ist.

Sagas haben es so an sich, dass sie mit einem warnenden Pfiff von der Oberfläche verschwinden wie Murmeltiere bei Gefahr. Der Epilog ist mit Asche überschrieben. „Geschichten, die nicht mehr erzählt werden, verfliegen wie Asche im Wind.“ (119) Die Erfolgsgeschichte des Dorfes kann also durchaus wieder in jenem Staub enden, aus dem sie nach dem großen „Fö“ entwachsen ist.

Selma Mahlknecht hat für einen heiklen Anlass eine tragfähige Erzählweise entwickelt. Heikel ist das Thema insofern, weil nicht alle an der Heimat teilnehmen dürfen. Wie bei einem Theaterstück braucht es allerhand zu-spielende Figuren, um den großen Gestus patriotisch über die Bühne wischen zu lassen.

Die Familiensaga ist hingegen eine austarierte Dramenform, in der die Wortlosen zu Wort kommen und die Sprech-Blender abgedunkelt werden. Wer genau ins Fö hineinhorcht, hört dieses apokalyptische Knistern, wie es in Tourismusdörfern zwischen dem Lärm der Saisonen auftritt.


Selma Mahlknecht: Fö – Zernezer Feuer. Eine Familiensaga.

Bozen: Edition Raetia 2023. 123 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-88-7283-871-6.

Selma Mahlknecht, geb. 1979 in Meran, lebt in Zernez.

Helmuth Schönauer 21/03/23



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2359

Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit

Die meisten Bücher rennen einem nach, überfallen einen und man kommt mit der Abwehr der Massenware des Literaturbetriebes nicht nach. In seltenen Fällen lassen sich Bücher ausmachen, denen man als Leser selbst nachgehen muss, sie sind verschlüsselt, geheimnisvoll und einmalig. Sie lassen sich erst lesen, wenn man zuvor Freundschaft mit dem Autor und seinem Konzept geschlossen hat.

Josef Oberhollenzer „pflegt“ schon seit Jahrzehnten einen solitären Erzählstil. Im Layout ist sein Roman getragen von einer an der oberen Seitenoberkante ausgerichteten Hauptebene, der im Stile von wissenschaftlichen Arbeiten eine Fußnotenleiste untergelegt ist.

In der Eisenbahnersprache könnte man vom „Regelgleis und Gegengleis“ sprechen, wenn der Verkehr bei Standard- und Notbetrieb unfallfrei funktionieren soll. Im Archivwesen könnte man von Regal- und Nutzliteratur sprechen. Für Archivare gilt ja der schöne Satz: „Die Wahrheit steht verschnürt im Regal, wenn man sie auspackt, zerfällt sie leicht.“

Wer die Lektüre stark eingedampft, könnte bei „Prantner“ von einer Biographie sprechen, die aus mannigfaltigen Quellen zusammengesetzt ist und gleichzeitig für den Erinnerungsbetrieb in einem Regal vorbereitet wird.

Die Biographie ist dramaturgisch um den Satz aufgebaut, „die Erinnerung ist das Leben selbst“. Diese Erkenntnis ist als Intermezzo in die beiden Blöcke geschoben, „wenn die leute nur daran geglaubt hätten“ und „versuch der verlassenheit zu entfliehen“.

Prantner“ versucht eine Antwort zu geben auf die Fragen: Was macht ein Individuum aus? Was sagen die Leute dazu? Wie kommt man aus der eigenen Haut heraus?

Die Figur des „Kaspar Brandner“ ist einerseits ein literarisches Zitat. In der Literatur der Alpen geistert nämlich seit Jahrhunderten unter diesem Namen ein aufmüpfiger Widerstandsgeist herum, der mit dem Tod Karten spielt und diesen scheinbar besiegt. Andererseits ist der „Kaspar Prantner“ eine Komposition über einen einzigartigen Menschen, der als Knecht auf einem Südtiroler Hof wundersame Dinge erfindet und dabei auf schräge Ideen kommt.

Als Nebenprodukt dieser Beschreibungen fallen schöne Geschichten über Erfindungen an, die sich selbst gelten. Die ideale Erfindung ist eine Erfindung um ihrer selbst willen. Während andere etwa eine Schreibmaschine erfinden, die später einmal einen Sinn ergeben kann, erfindet Prantner eine Blütenstaubsammelmaschine, die Poesie und Pollen in einem Arbeitsgang aufspürt und einsammelt.

Leben als Individuum Gesellschaftskritik – von der Realität entkoppelte Universalzeit: In diesem Dreieck fallen beim Rütteln des Geschichtsmaterials jede Menge Petitessen an, die entweder als kleiner Aufsatz ans Licht der Erinnerung strömen oder als sprachmächtiger Essay im Rüttelsieb hängenbleiben.

Was was leistet die welsche Schule?“ (81) In diesem Text sind die pädagogischen Grundfragen gestellt und in Frage gestellt. Was an der Schule einer Gesellschaft geschieht, geschieht auch in ihren Parlamenten. Eine Kommission untersucht in diesem Bildungsessay die Auswirkung der beiden Sprachen italienisch und deutsch auf sich selbst. Das Ergebnis fällt trocken aus: „Das Lesen war überall ungeheuer eintönig, ohne Verständnis.“ (82)

Neben den Geschichten, die eine Art Kristallisation eines Recherchevorgangs ergeben, steht das große Thema der „Quellenverschränkung“ unter ständiger Beobachtung des Erzählstroms.

Beispiel: Jemand entwendet kurz einen Artikel, den jemand in der Handtasche als Reliquie mit sich herumträgt. Er liest den Text, aber es steht nichts besonderes drin, er googelt im Netz, stößt auf keinen Sinn, und steckt den Artikel aus dem „Bozner Tagblatt“ wieder in die Tasche zurück. Und siehe, jetzt hat der Text wieder einen Sinn, weil er abermals als Reliquie im Tresor der Erinnerung abgelegt ist. (28)

Genaueres „Hineinhören“ in den Text lohnt sich bei Josef Oberhollenzer allemal. So verwendet er für das Erzählen von Innerem den Ausdruck „etwas aufblättern“. (45) Im Volksmund wird diese Fügung verwendet als „aufplatteln“, das heißt, jemanden fertig machen.

Manche Begriffe werden zu Beschwörungsformeln, die mitten in der Unauffälligkeit einer Alltagssituation angewendet werden müssen, um das Geschehen weiterzubringen. „undsoweiter“ (157) ist so eine Fügung, mit der sich die Helden aus der Patsche helfen, wenn sie nicht mehr weiterwissen.

Irgendwann, ob zu Beginn, Mitte oder nach der Lektüre, wird man nicht umhinkommen, das wundersame Personenregister zu lesen, das dem Buch vorangestellt ist. Da sind alle vorgestellt, die im Text vorkommen, in früheren Romanen erfunden worden sind, oder sich aus der Zeitgeschichte Südtirols direkt hineingebeamt haben in den Erzählkosmos von „Prantner“.

Das Registerlesen ist die schnellste Methode, sich eine Draufsicht auf einen Roman zu verschaffen. In minimalen Einträgen treten dabei die Schicksale zu Tage, die jenem des Prantner gleichen. Jemandem gelingt es, offen aufgebahrt zu werden, das ist für ihn von gleichem Wert, wie die Blütenmaschine für den Haupthelden.

Josef Oberhollenzers Roman geht einem lange nach. Wie erzählen die anderen von einem? Welchen Quellen ist man selbst aufgesessen? Wie kann man der flüchtigen Art, mit sich selbst umzugehen, entkommen, ohne dass es auffällt?


Josef Oberhollenzer: Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit.

Wien, Bozen: folio 2023. 232 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-85256-874-4.

Josef Oberhollenzer, geb. 1955 im Ahrntal, lebt in Bruneck.

Helmuth Schönauer 19/03/23



GEGENWARTSLITERATUR 3176

günstige intelligenz

Künstliche Intelligenz ist heute das, was früher eine Matura-Prüfung gewesen ist. Die KI ist mit allerhand Floskeln und Fügungen vorprogrammiert und stellt daraus auf Knopfdruck gefällige Texte zusammen, die durchaus die Kraft von Lyrik verströmen können. Nach dem Ausspucken des Textes sind alle glücklich wie früher bei der Matura, wenn das gegenderte Zögling nach Jahren der Indoktrination zur Abschlussprüfung einen feierlichen Text ausgespuckt hat.

Jörg Piringer geht die Sache mit der „günstigen Intelligenz“ ebenfalls auf Knopfdruck an. Um 5,60 EUR hat er sich eine Software gekauft, die, mit echter Intelligenz gefüttert, allerhand lyrische Stückeln spielt.

Als lyrisierender Informatiker hat er das Material gesichtet, verfeinert und daraus ein Handbuch nach alter Art gemacht. Das ist nämlich das Schlaue an diesem Konzept: Die Texte sind sorgfältig in einem herkömmlichen Buch abgedruckt, haben einen Autor am Buchdeckel und verströmen durch das edle Layout des Verlags die Aura von gefestigter Lyrik.

Üblicherweise liegt zeitgenössische Lyrik in irgendeinem Trend, kommentiert diesen mit Neologismen oder rundet ihn bruchstückhaft ab für das Archiv.

Die sogenannte KI freilich ist weit mehr als ein Trend, sie wird bereits als tiefgreifende Revolution für all unser literarisches Werken ausgerufen.

Ehe zum Jahreswechsel 2023 weltweit ein KI-Programm zum Üben für die Weltbevölkerung ausgestreut wird, hat Jörg Piringer seine bisherigen Forschungen und Anwendungen in die „günstige intelligenz“ gepackt.

Zwischen romantischem Fallbeispiel, intellektueller Übung und mechanisch erregtem Probedruck besteht kein Unterschied. Auch die Urheberschaft ist nicht eindeutig geklärt. Zwar erhebt der Name „Jörg Piringer“ im Zweifelsfalle vor Gericht Anspruch auf die Autorschaft, aber im biographischen Nachspann sind neun Kurzbios angeführt. Unter der Formel „Jörg Piringer ist“ sind alle Berufe möglich. Raiffeisen-Geschäftsführer, Non-Extremist, Manager, Modedesigner, Urgestein der Kirchenmusik, ehemaliger Erzieher.

Diese Biographie-Möglichkeiten spuckt die KI aus, wenn man sie ordnungsgemäß anleitet. Sie bedient sich dabei der Vorgaben, wie sie für Wikipedia-Einträge vorgeschrieben sind.

In der Ausübung der KI lässt sich zeigen, dass letztlich Wikipedia in einem kalten Putsch von der KI übernommen worden ist.

Das Spiel mit den Biographien ist auch für den Literaturbetrieb aufschlussreich, werden doch mittlerweile beim Verfassen von Klappentexten, beim Ansuchen für Stipendien und in den Würdigungsansprachen bei Preisvergaben Elemente der KI verwendet.

Das Rezensionswesen, ein vorgeblich wesentlicher Faktor im Literaturbetrieb, ist von Jörg Piringer und seiner KI ebenfalls in Alarmbereitschaft gesetzt worden und „erigiert“ wie geplant. Vor jeder Rezension steht bekanntlich die Absicht, das Werk zu promoten, verreißen oder in die Vergessenheit zu treten. Im KI-Programm sind daher die wichtigsten Rezensionstypen durchgespielt.

Seit Literatur im Unterricht zum Spielball psychischer Rezeptionsbefindlichkeiten geworden ist, braucht es auch jede Menge Texte, die diverse Drücke der Schüler-Psychen ablassen können.

Schreibe einen Tweet darüber!“ Welche moderne Lehrperson hat nicht schon einmal in diese didaktische Trickkiste für Nonsens gegriffen. „Schreibe eine Ode darüber, einen Gesetzestext, ein Lautgedicht, eine Sportreportage.“

Die KI unterstützt tapfer alles, was in der Literaturvermittlung seit Jahrzehnten stattfindet.

Unschlagbar ist das Programm auch bei sogenannten Übersetzungen. Nicht nur das pure Um-googeln von einer Sprache in die andere ist bis zu einem gewissen Level bereits elegant gelöst, auch das Umschreiben in Morsealphabet, in ein beleidigtes Posting oder einen wissenschaftlichen Text ist easy.

Der Knackpunkt all dieser Stilfragen, Programmgrenzen und moralischen Deviationen ist die berühmte „Arschlochfrage“. Getraut sich das Programm, das A-Wort anzuwenden?

Unter dem Tarnbegriff „Wortbildung“ (142) versucht der KI-Manager die KI zu überlisten und ihr das Tabuwort herauszulocken. „Ist Astloch ein deutsches Wort? Ist Achlost ein deutsches Wort?“ - Die KI reagiert verhalten und meint: Fahrrad sei ein deutsches Wort. Im Programm ist also ein Filter eingebaut, der das A-Wort verhindert, damit alles in der Schule verwendet werden kann.

Seitenweise liest man Gedichte, Entwürfe, und mit Fußnoten abgesicherte Bemerkungen. Allmählich reift die Erkenntnis aus: Nach diesem Buch kann man nie mehr unschuldig Gedichte von jemandem lesen, der sich diese im Altersheim vom Mund abgespart und mit der Feder aufgezeichnet hat mit der Bitte um eine Erstrezension.

Jörg Piringer beendet seine hybride Poetik und Poetologie mit einem Gedankengang „zur Zukunft der Literarischen Intelligenzen“. (194) Drei von zwei Dutzend Maßnahmen:

Jeder Mensch kann Schriftstellerin werden, dazu ist nur die Erwerbung einer Benutzerlizenz für die Poesie-Intelligenz notwendig. [...]

Aus Mitleid mit den darbenden Schriftstellerinnen und aus Rationalisierungsgründen wird menschliche Literatur verboten. […]

Es ändert sich wenig, die Literatur bleibt fast so langweilig wie sie ist.“ (196)

Günstige Intelligenz“ ist ein witziger Meilenstein in der Entwicklung der poetischen, literarischen und günstigen Intelligenz. In diesem Band hat jedenfalls noch der Schriftsteller und Informatiker Jörg Piringer, geb. 1974, die Oberhand.


Jörg Piringer: günstige intelligenz. hybride poetik und poetologie.

Klagenfurt: Ritter 2022. 206 Seiten. EUR 27,-. ISBN 978-3-85415-650-5.

Jörg Piringer, geb. 1974, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 09/03/23



GEGENWARTSLITERATUR 3175

Anstandslos

Wenn ein Begriff für sich genommen schon Grübeln auslöst, ist er ein gutes Starterkabel für das Anwerfen eines Essays. Leserschaft und Autor sitzen aufgewühlt um diesen Begriff „Anstandslos“ herum, der vielleicht zur Beschreibung der jüngeren politischen Ereignisse in Österreich dient. Zudem eignet sich das Genre Essay besonders gut für noch nicht verfestigte Lava in der Geschichtsschreibung, die künftig mit frischem Material bewachsen sein wird.

Anstandslos“ ist am ehesten mit „wie geschmiert“ zu übersetzen, was ja auch wieder einen Essay auslösen könnte.

Armin Thurnher bearbeitet jedenfalls drei Themenkreise:

a) die Schreibblase eines Ruheständlers im Park

b) die Personen Kurz und Sobotka als Vertreter einer anstandslosen Politik

c) Journalismus in der Falle des „Cloud-Kapitalismus“

Das Buch ist hauptsächlich in Quarantäne in einem Waldviertler Privat-Park entstanden, aus sogenannten „Seuchenkolumnen“ hat sich abgeschirmt vom Alltagstrubel eine Geschichte über die beiden Helden Kurz und Sobotka ergeben.

Der Autor ist sich in seiner Schreibblase bewusst, dass er als Journalist mit drin hängt in der Story, denn die Verrücktheiten in der Politik könnten nie funktionieren, wenn nicht der Journalismus sie täglich verbreiten würde.

Als Journalist und Gründer seines Lebenswerkes „Falter“ ist Armin Thurnher auf einem solitären Stuhl im Sitzkreis der Medien angebunden, als Krokodil in der Medienlandschaft wird er nur dort zugeladen, wo man ihn als Quotenmann für den unabhängigen Journalismus zeigen kann.

Jetzt, aus dem Park heraus formuliert, saust die Kurz-Epoche noch einmal in schnellen Schnitten als einzigartige Inszenierung ab.

Dabei werden die beiden Protagonisten „begutachtet“, nicht gewürdigt.

Hängengeblieben ist dem Autor eine Szene in der von Kurz inszenierten „Tafelrunde“, dabei werden bei Events die Rollen vertauscht, die Politiker fragen die Journalisten, und diese erzählen in ihrem Journalisten-Speech Politisches.

Kurz ist wie immer bestens gebrieft, aber wenn nicht die richtige Antwort kommt, wird er für einen Augenblick richtig wütend, ehe sich das vorbereitete Inszenarium wieder durchsetzen kann. „Kurz war nicht rhetorisch, sondern eristisch geschult, was leicht in Rechthaberei übergehen konnte.“ (94)

Die Politik hinter dieser Inszenierung fällt schließlich wie Schuppen von den Augen: „Er hievte unfähiges Personal, dessen einziges Kriterium Loyalität zu ihm war, in höchste Positionen. Er zeigte seine Verachtung für demokratische Ämter, indem er sie als Rangierbahnhof für seine Ambitionen behandelte.“ (60)

Als zweiter Vertreter der Anstandslosigkeit wird der Nationalratspräsident Sobotka vorgestellt. Die Eckpunkte seiner politischen Karriere sind eine missglückte Spekulation mit Wohnbaugeldern 2001, sie konnte stracks unter den Teppich gekehrt werden, weil es bei Spekulation ja um fiktive Geschäfte geht, die vor Gericht nicht zählen, und die kürzlich gelungene Wiedereröffnung des Parlaments mit einem goldenen Klavier, das über seine musischen Freunde organisiert worden ist.

Zwischen beiden Ereignissen verortet der Autor eine Anstandslosigkeit, die er nach einem Zitat von Harry Frankfurt „Bullshit“ nennt. „Wir werden täglich von politischen, medialen, werblichen Bullshittern zugeschissen, die Berge häufen sich.“ (66)

Angeblich gibt es einen feinen Unterschied zwischen dem Trump’schen Fake-ismus, wo einfach Unwahres gesagt wird, und dem Bullshit-ismus, der die Nuance des Unechten in sich trägt. Das goldene Klavier im Parlament ist Bullshit, wenn zuvor sein Präsident einen Untersuchungsausschuss gegen sich selbst geleitet hat. Politisches Desaster soll mit goldener Musik zugeklimpert werden.

So ungefähr laufen die Argumentationsketten, die vor allem diese unüberwindliche Dichotomie im Auge haben: Zwischen politischer und juristischer Argumentation gibt es keine Vermischung.

Entweder ich argumentiere politisch, dann muss auch das Gegenüber politisch antworten, oder es geht auf die juristische Ebene, dann spricht das Gericht in seiner eigenen Sprache.“

Was den Journalisten Thurnher schier in den Wahnsinn treibt, ist diese Vermischung der Welten. Argumentiert jemand politisch-journalistisch, wird er geklagt, stellt er sich auf die Jurisprudenz ein, indem er Zitate aus Untersuchungsausschüssen verwendet, wird er wiederum auf den Datenschutz verwiesen.

Aus diesem Dilemma entwickelt sich von selbst das dritte Thema. Wie können wir im Sinne der Aufklärung und Justiz argumentieren, wenn uns die Medien dafür abhanden gekommen sind?

Logischerweise geht es beim System Kurz um die drei Agenden: Privatisierung | Gleichschaltung der Medien | Renationalisierung Europas. (106) Als Quellen dieser Ideologie lassen sich beispielsweise „Das Handorakel“ (1647) von Baltasar Gracián über die Weltklugheit des Einzelnen herleiten, sowie die Ego-Philosophien der Ayn Rand.

Befeuert von der Hemmungslosigkeit auf Social-media, die durch Bill Clintons Postulat von der Schrankenlosigkeit im Netz ausgelöst worden ist, tut sich eine Medien- und Netzlandschaft auf, die nur ein Wort kennt: Toxisch.

Versöhnlich kehrt der Autor in seinen Park zurück, er hat soeben „anstandslos“ Breitband installiert bekommen.

Die Botschaft dieses Essays ist der Park. Auf die Denksituation kommt es an, nicht auf das Gedachte. So gesehen kann man allen verzeihen und alle bewundern, von denen man in einer berauschten Sprache gelesen hat.

Was immer man über die Anstandslosen auch denken mag, in der Hand eines aufgeklärten Journalisten wird daraus eine gute Story. Und das ist ja nach wie vor der einzige Sinn von Journalismus.


Armin Thurnher: Anstandslos. Demokratie, Oligarchie, österreichische Abwege.

Wien: Zsolnay 2023. 125 Seiten. EUR 19,60. ISBN 978-3-552-07278-7.

Armin Thurnher, geb. 1949 in Bregenz, Gründer des Falters. lebt in einem Park im Waldviertel.

Helmuth Schönauer 15/03/23