Buch in Pension – Rezensionen 2024|02


Simon Chkheidze: Als die Sonne versank. Kurzgeschichten.

Florian Dietmaier: Die Kompromisse. Roman.

Sonja Gruber: Dichtungen III. Gedichte und Miniaturen.

Max Höfler: Alles über alles oder warum.

Stefanie Holzer / Walter Klier: Heiter bis grantig.

Ralf B. Korte: tagewaise. Notate.

Peter Rosei: Die Geschichte geht weiter. Ungemütliche Essays.

Christian Schacherreiter: Bruckner stirbt nicht. Roman.

Daniel Stögerer: So ein Mensch. Erzählungen.

Vera Vieider: Wer trägt das Licht in den Tag. Gedichte.


TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2392

Als die Sonne versank

Mit einem prägnanten Dreiklang sind zwölf Kurzgeschichten angespielt, und schon schießen daraus Miniaturen hervor und verwandeln sich in musikalische Riffs.

Simon Chkheidze komponiert seine Geschichten minimalistisch und setzt auf die Sprache der Musik, die sein Wirken beeinflusst, indem Klänge in die Satzporen eindringen. Stellenweise gleichen diese Geschichten kleinen Aussparungen in der melodischen Landschaft, worin man den Verlauf der Strecken erahnen kann, wie sonst beim Begutachten einer Modelleisenbahn auf künstlichen Gebirgsstrecken.

Untereinander sind die Helden mit ihren Musikstilen und Instrumenten verbunden, ohne dass sie deshalb zu einem Ensemble Aufstellung genommen hätten.

Als die Sonne versank“ ist eine wohltemperierte Eingangsformel, mit der sich das triviale Tagwerk zurückdrängen lässt, damit Platz bleibt für die Poesie. Die einzelnen Miniaturen handeln von schlichten Heldinnen und Heroen, die mit Vor- und Nachnamen angeführt sind, wie es in alten Telefonbüchern Brauch ist. In der ersten Zeile steht meist der „Dreiklang“ der mit drei Begriffen das Wesen der Person beschreiben soll.

Die Haut runzlig. Die Stirn gelb. Eisenschwach.“ (5) So wird der Musiker Alfred Muskat eingeführt, der sich bescheiden mit seiner Trompete durchs Leben schlägt, halb liebevolle Karikatur wie bei Robert Walser, halb Spitzweg pur als ärmliche Existenz. Ein Treffen mit einem Berufskollegen zum gemeinsamen Spiel endet letal, als er diesen trifft, liegt er bereits tot und unmusikalisch im Raum. Freilich ist ein Zettel auf seinen Leib geklebt, Poesie muss sein. „Rot funkelt mein eigen Leib. / Blut beschmiert mein eigen Wein. / Grün tobt das nasse Gras. / Wurd eigen ich zu Würmerfraß.“ (9)

Roselin Weide trägt den Steckbrief mit sich: „Schüchtern. Süß. Wie eine Nelke.“ (11) Ihre Mutter ist früh verstorben, aber ihre Stimme klingt noch nach, Vater ist wohl ein Pflegefall, aber der Weg zum Friedhof geht sich gerade noch aus. Diese Friedhofsidylle scheint auf einer Vignette Platz zu haben, so schlicht und fein ist sie ausgearbeitet.

In der dritten Geschichte taucht Markus Krüger in die Szenerie rund um einen Gebirgsbach ein. Er wird intoniert mit dem Akkord: „Langhaarig. Weltfremd. Scheu.“ (17) Sobald das Rauschen der Natur voll aufgedreht ist, krümmt er sich in Lese-Pose und vertieft sich in einem Roman von Dostojewski. Manchmal formt er zwischen der Lektüre und seinem Denken kleine Verbindungssätzchen. „Fiktive Realität wird zu wahrer Sehnsucht.“ (20) Bald darauf findet man sein zerfleddertes Zelt: Held und Handlung sind verschwunden.

Die Geschichten folgen der Dramaturgie von poetischen Sketchen, jäh tauchen die Figuren auf, zeigen eine typische Bewegung wie für ein Beruferaten, und verschwinden mit einem poetischen Spruch auf den Lippen, der oft stumm nach innen gesagt wird.

Die taubstumme Ballerina aus St. Petersburg tanzt für den Mond nach der Choreographie eines stummen Gedichtes: „Der Mond rasierte sein Gesicht. / Stolz in dunkler Ferne. / Heller schien sein weißes Licht, / Funkelten stoppelige Sterne.“ (26)

Ein Karikaturist hingegen verfasst nach den Worten des Ehemanns eine schroffe Zeichnung der Ehefrau, die Regie des Mannes geht in gezeichnete Gesichtszüge seiner Frau über.

Ein gewisser Manuel Göde, der fern wie ein Mathematiker wirkt, hält sich selbst in der eigenen Wohnung gefangen und entwickelt Tag für Tag ein Trinkspiel. (37) Sein Schlaf wird zusehends schlechter, sodass ihn manchmal ein Freund neben dem Bett liegend findet, wenn er Nachschau hält. Alles scheint damit zu tun zu haben, dass der Arme keine Kindheit hatte und unvorbereitet Erwachsener werden musste. Aber er hat Glück: Der Flügel des Wohnzimmerfensters lässt sich plötzlich öffnen und das hungrige Gesicht drängt ins Freie und spürt jäh die frische Luft der Welt.

Im hinteren Teil der Miniaturen treten manchmal jene Figuren noch einmal auf, die vorne bereits zu Tode gekommen sind. So ist es beim Musiklehrer durchaus denkbar, dass er ein Wiedergänger ist, der jederzeit in Erscheinung treten kann, wenn ihm danach ist.

Die Künstlerin Alicia Schulbert versinkt unvorbereitet im Eis und stößt eine eigenartige Tonleiter aus, während sie von der Oberfläche verschwindet. (67)

In einem fulminanten Abgesang, „als die Sonne versank“, drehen sich die erzählten Kleinodien final um die eigene Achse, sie nehmen die Gestalt einer Schallplatte an, die als Arche Noah dem Weltuntergang entgegenschlingert. „Die Schallplatte drehte sich: Als die Sonne versank, stotterte sie kurz, und rauschte weiter und weiter und weiter.“ (71)

Heiter und heiter und heiter könnte man die Klangfarbe beschreiben, die über den Kurzgeschichten von Simon Chkheidze liegt.


Simon Chkheidze: Als die Sonne versank. Kurzgeschichten. Mit Zeichnungen von Beka Khoshtaria.

Innsbruck: Laurin 2024. 72 Seiten. EUR 17,-. ISBN 978-3-903539-37-2.

Simon Chkheidze, geb. 1998 in München, lebt in Innsbruck.

Helmuth Schönauer 09/02/24



GEGENWARTSLITERATUR 3344

Die Kompromisse

Der Kompromiss ist das Sperrigste, womit sich eine Literatur mit ihren Abenteuern und heldenhaften Stars beschäftigen muss. Ausgestattet mit diplomatischer Gelassenheit freilich sind die Kompromisse jene Knoten, an denen die porösen Elemente der Geschichte wieder und wieder zu einem tragfähigen Konstrukt zusammengeschweißt sind.

Florian Dietmaier erzählt mit aberwitziger Kühnheit vom Lauf der Geschichte abseits des Datenstrangs, der sich durch die Enzyklopädien wälzt. Zwar sind die großen Geschehnisse der Zeitgeschichte stets in Hör- und Sichtweite, aber die Abenteuer des Kompromisses spielen sich in abgegrenzten Milieus ab.

Die Erzählstruktur einer Weltgeschichte an Kleinigkeiten und Kleinodien ist in einem programmatischen Voraus-Gedicht umschrieben: „Woulda coulda shoulda“. Was hier in einem Sound von Pidgin-English vorgeführt wird, hieße in einheimischer Mundart vielleicht „Tät I, Hätt I, Würd I“, damit wird der Konjunktiv als Hintergrund jeder Realität ausgerufen.

Der Roman erzählt in zwanzig Episoden von 1960 herauf bis in die Gegenwart. Zusammengehalten wird das Ganze von einer vagen Ich-Figur, die sich zuerst an den Erinnerungen des Vaters bedient, später eine Karriere als Delegations-Tourist hinlegt, in New York aus dem Stand heraus und vor dem Standesamt eine Familie gründet und schließlich mit seinem Sohn über die Nebenstränge historischen Zeitflusses diskutiert.

Der Umgang mit Quellen zeigt sich an einem Globus des Vaters, auf dem offensichtlich die politischen Grenzen aus der Vergangenheit übriggeblieben sind. Der Vater behebt das Malheur, indem er den Namen des Globus-Schöpfers aus der Halterung ritzt. Letztlich handelt es sich um eine Art Entnazifizierung light.

Beinahe jedes Kapitel geht auf einen Bibliotheksbesuch zurück, wobei Raritäten genauso herangezogen werden wie Rekonstruktionen von verschollenen Schriften. An manchen Stellen entsteht dadurch eine individuelle Form von Geschichtsschreibung, wenn der Lesende eine ungewöhnliche Seite aufschlägt und sie für sich zur Hauptquelle erklärt.

So ist vielleicht das Saarland deshalb so sprichwörtlich klein, weil der Erzähler in Saarbrücken ein Buch über Gulliver gelesen hat, worin überdurchschnittlich viel kleines Zeug vorkommt.

Die Kraft der aufgeschlagenen Seiten kann sogar überlebenswichtig sein, wenn es am Schluss heißt: „Stürbe ich jetzt auf dieser Seite, wäre es die richtige gewesen?“ (149)

Während sich mit der Zeit eine Art „richtige Lesart“ der Geschehnisse durchsetzt, geraten die Nebenhandlungen, die zu diesen Kompromissen geführt haben, in die Rubrik Skurriles, aus der man sich höchstens für Anekdoten oder Quizfragen bedient.

Dabei steckt hinter jedem Fakt ein Kompromiss Marke Woulda-coulda-shoulda.

Ein paar dieser Nebenhandlungen werden für den Erzähler so dominant, dass er dabei die große Geschichte vergisst. Diese taucht höchsten noch als Jahreszahl und Personenregister auf, etwa wenn 1971 Vorbereitungen getroffen werden, Waldheim als UN-Generalsekretär zu installieren, während eine kleine österreichische Wirtschaftsdelegation auf den Spuren des Universal-Korrespondenten Scholl-Latour nach Sikkim reist, um die Chancen für den Bergtourismus auszuloten.

Die meisten Aktionen des Erzählers sind kontemplativ angelegt, etwa wenn er in Singapur ein Nudelgericht stehen lässt und sich überlegt, wie wohl die Maden darüber herfallen werden, während er selbst schon vergessen haben wird, warum er nach Singapur gereist ist.

Als es kurz danach nach Nauru geht, um als Wirtschaftsdelegation etwas Größeres vorzubereiten, taucht die Frage auf, wie man ein Land verstehen könnte. Da kommt dem Helden der „Gedanken-Kompromiss“, dass man ein Land nur verstehen kann, wenn man die Unterschiede ihrer Partikel ignoriert. Österreich lässt sich als Ganzes begreifen, wenn man aber den Unterschied zwischen einem Innsbrucker und einem Badener in Erwägung zieht, wird automatisch das ganze Land unverständlich.

In die geographische Größenordnung von Sikkim, Luxemburg oder Vaduz passt auch die Überlegung, dass das Dritte Reich für ein paar Stunden ganz winzig geworden ist, als es sich auf Flensburg zurückschrumpfte, worin Dönitz die Kapitulation vorbereitete.

Ähnlich geschrumpft ist für Stunden der große Völkerbund, der von seiner bürokratischen Auslegung her für Jahrhunderte gedacht war.

Aber auch die türkische Provinz Hatay schwebt für Stunden als Niemandsland zum benachbarten Syrien über den Karten der Grenz-ziehenden Diplomaten, ehe sich diese Provinz wieder fix auf dem Kartenboden absetzen kann, jetzt mit einem dicken Grenzstrich in eine neue Form gefasst.

Wenn es um Kompromisse und Nebenfronten geht, darf auch das hochneurotische Südtirol nicht fehlen. In einer von niederen Chargen getragenen Szene wird die Universität Bozen gegründet, und jemand sagt vor den Augen des Landeshauptmanns Durnwalder einen schönen Satz: „Die Sprache macht das Volk. Das hat der Mensch schon früh verstanden. Deshalb hat der Italiener versucht, uns das Deutsche wegzunehmen.“ (63)

Mit zunehmendem Alter des Erzählers zerfällt die Welt in den binären Hauptkompromiss Fiktion und Fakt.

Ein Delegierter soll für die Arbeiterkammer auf Malta die Arbeitsbedingungen untersuchen, in Wirklichkeit aber ist er von einem Dosenkonzern gekauft und soll testen, ob sich alle an die geschützte Marke eines roten Stiers halten.

Unter dem Blickwinker der EU soll jemand die politische Zustände in Serbien dokumentieren, aber schon während der Reisevorbereitung bleibt er an einem Bahn-Video hängen und lässt sich von der Lokomotive durch das Land tragen, ehe er feststellt, dass die kyrillischen Einblendungen falsch übersetzt sind.

Als Hongkong-Experte bleibt der Erzähler in Kowloon hängen und merkt erst allmählich, dass er sich in einem Videospiel verfangen hat. Ähnliches geschieht beim Vergleich von Hallstatt Austria mit Hallstatt China. Die Frage nach dem Original hat sich schon längst in einem Bündel an Wahrnehmungskompromissen aufgelöst.

Florian Dietmaier erzählt „kompromisslos“ mehrdeutig. Weltgeschichte, Individuum, Erzählposition, persönliches Glück und politische Wohlfahrt rasen durch den Roman, der sich selbst an Knackstellen in eine Bibliothek begibt um nachzulesen, wie es jetzt weitergeht. Eine grotesk-logische Geschichtsschreibung!


Florian Dietmaier: Die Kompromisse. Roman.

Graz: Droschl 2024. 149 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-99059-148-2.

Florian Dietmaier, geb. 1985 in Graz, lebt in Graz.

Helmuth Schönauer 25/02/24



GEGENWARTSLITERATUR 3341

Dichtungen III

Das Alphabet ist ein Zauberspruch, mit dem sich die Welt in eine poetische Ordnung bringen lässt. Nicht umsonst sind in Bibliotheken die Bücher alphabetisch aufgestellt.

Sonja Gruber fasst ihren poetisch-essayistischen Blick auf die Welt mit dem weitläufigen Begriff Dichtungen zusammen. Damit soll letztlich nur die Art der Linse beschrieben sein, mit der die Welt betrachtet wird. Es handelt sich um eine fiktionale Einstellung, wodurch die Weltimpulse gefiltert werden, ehe sie auf die Verarbeitungs-Box des Individuums treffen.

Im mittlerweile dritten Band der Dichtungen sind etwa 130 Eintragungen subsumiert. Bis auf ein paar Einstellungen, die einem Romanentwurf oder dramatischen Story-Board entsprechen, handelt es sich um Notizen, poetische Pointen, auffällige Sequenzen im Tagesablauf und überraschende Drehungen des Lebenssinns aus der Hüfte heraus.

Die Überschriften sind kunstvoll gestaltet, damit sie einmal ins Alphabet passen, und zum anderen einem ungewöhnlichen Sachverhalt gerecht werden. Oft werden die Wörter daher graphisch zerlegt, wie beispielsweise im ersten Begriff: „Ab_was_er“, worin der Tagesablauf in fragende Partikel zerfällt, die in einer besonderen Form von Abwasser weggeschwemmt werden. Eine zweite Besonderheit neben der graphischen Auflösung ist die Neubildung von Wörtern, wie sie oft aus einem Hörfehler oder sonstigem Defekt der Datenübertragung entstehen.

Als Beispiel taugt hier vielleicht der Begriff „Dramabet“ (29), womit ein dramatischer Werkzeugkasten angesprochen wird, der für alle Handlungsstränge einen passenden Spitzer anbietet, um das Drama al dente zu halten.

Einträge wie „Lippenfrost“ (68) und „Münzmond“ (72) machen sich die Kraft der Lyrik zu eigen, eine Szene so weit einzudicken, dass sie sich in einem einzigen Wort sagen lässt.

Wo Lyrik im Spiel ist, ist naturgemäß der passende Vogel nicht weit. Seit die echten Vögel beinahe ausgestorben sind, kommen sie umso häufiger in den Gedichten der zeitgenössischen Romantik vor. Im Gedicht „Vorvögel“ (116) ist gar nicht mehr von der Gegenwart die Rede, sondern der Gesang aus einer vergangenen Jahreszeit klingt nach, wenn auch eingefroren in Kälte.

Die Gedichte und Kleinerzählungen „funktionieren“ in etwa wie beim Optiker, wenn dieser diverse Filter vor das Auge legt, um Sehschärfen und Schraffuren zu messen. Im Falle der „Dichtungen“ spielt das Lyrische Ich so lange mit den Blickwinkeln, bis der poetische Gegenstand, die Stimmung oder die psychische Tagesverfassung mehrdeutig ausgeleuchtet ist.

Schraffiert // Eine Erkenntnis kriecht ganz langsam in meinen Ärmel. Die Sonne kommt an diesem Tag kaum durch die Decke. In meiner Ellenbeuge sticht etwas. / Eine Fliege taumelt über mir. Als ob sie sich mit Absicht gegen eine Glaswand geschmissen hätte. / Ich nicke lieber wieder ein. / […] / Licht kommt ja heute doch keins mehr.“ (98)

Die Beobachtungsposition wird zum eigentlichen Thema, indem sich alle möglichen Sinne kurz einschalten und Irritationen, Überforderung oder Überreizung melden. Mit der Abwesenheit von Licht erübrigt sich letztlich jede Überlegung, wie ein Sachverhalt ausgeleuchtet werden könnte.

Das Zerfallen der Bilder während der Beobachtung leitet auch jene magische Dramaturgie, die in dem größeren Prosatext „entwischt“ (37) zur Anwendung kommt. Eine Ich-Erzählerin, die nach dem Ausscheiden aus dem Körper ihre Identität rekonstruiert, ist offensichtlich einem Verführer anheim gefallen, der ihr mit Trugbildern, Drogen und Drohungen nach dem Leben trachtet. Zusammengeflickt aus Bildern vom Schulhof, überblendet von Glücksvorstellungen im Hochglanzformat, nimmt die Bedrohung die Züge eines Henkers an, der die Erzählerin zur Strecke bringt. Die Szene lässt sich religiös wie bei Fronleichnam deuten, forensisch wie nach einer Kripo-Untersuchung oder psychedelisch wie nach einem missglückten Trip. Vielleicht ist es aber auch nur eine Todesdarstellung mit Perspektivenwechsel. Die Erzählerin ist bereits aus jeglichem kollektiven Bewusstsein gestrichen, nur mit größter Anstrengung lässt sich noch ihr Name finden. „Ich hieß, ahne ich erst jetzt, doch nicht Bea oder Berta, sondern Bernadette. Ich sage lieber nichts, man glaubt mir ja doch nicht.“

Die Dichtungen III enden mit einem offenen Erzähl-Abgang. Die letzte Eintragung „Zwischengeschichten“ macht darauf aufmerksam, dass nichts zu Ende ist, was sich zwischen den Zeiten bewegt. Diese poetischen Kleinode leben von der Flüchtigkeit und der Versuchung, sich zwischen den Dingen zu verkriechen.

Das Abwasser des Anfangs verkriecht sich letztlich in den Zwischengeschichten. „Was linst der Tag / in dein dünnes Haar?“ (126)

Sonja Gruber zeigt neben den poetischen Schaustücken des Alltags vor allem eine Methode, wie sich dieses Chaos an Eindrücken meistern ließe. Und sie vertraut letztlich auf das Alphabet, wie ganze Generationen von Bibliothekarinnen, die ihr schelmisch zunicken: Es gibt nur jene Ordnung, die man sich selbst schafft.


Sonja Gruber: Dichtungen III. Gedichte und Miniaturen.

Wien: edition fabrik.transit 2024. 134 Seiten. EUR 19,-. ISBN 978-3-903267-60-2.

Sonja Gruber, geb. 1985 im Salzburger Land, lebt in Bad Leonfelden.

Helmuth Schönauer 07/02/24



GEGENWARTSLITERATUR 3346

Alles über alles oder warum

Ein wirklich gut organisiertes Kind ist ständig neugierig und empfindet Wissen als ein Spiel, das keinen unmittelbaren Nutzen hat. Bildungssysteme scheitern wahrscheinlich weltweit daran, dass sie Neugierde und Spiel aus dem Verhalten eliminieren. Ein ausgeschulter Mensch ist weder neugierig noch spielerisch unterwegs, alles ist auf einen augenblicklichen Nutzen konzentriert ohne Perspektive nach vorne oder in die Geschichte nach hinten gerichtet.

Max Höfler stellt in seinem Kompendium „Alles über alles oder warum“ ein Curriculum vor, wie man den Sinn der Welt spielerisch hinterfragt und mit neuen Kausalketten hinterlegt.

Zu diesem Zweck wählt er die Form eines Unterhaltungslexikons, worin während einer Session „Trivial Pursuit“ die Welt für kurze Augenblicke auf den Kopf gestellt wird.

Am hinteren Cover sind jene Schlagwörter abgedruckt, die nicht nur potentielle Leser zum Aufschlagen des Buches einladen, sondern dann im Innenteil als Register alles halten, was sie außen am Umschlag versprechen. So kommt zwischen 100-jährigem Streit, ALF und Amazonas über James Brian, Kafka Franz und Keaton Buster bis hin zu XXX-Portion, Yngwie und Zukunftsenergien alles über alles zur Sprache, was man so während eines spielerischen Gedankenspaziergangs brauchen kann oder auch nicht.

Die Artikel kümmern sich um Eigennamen, Thesen, Sachbegriffe oder geographische Zuschreibungen ohne Ansehen von Person oder Wahrscheinlichkeit. Im Gegenteil, die Einträge werden mit einer Relativierungsformel ins Spiel gebracht: „Ist es vielleicht nicht vielmehr so, dass […]“

Streng fragmentierende Oberbegriffe erwecken den Anschein von straffer Fakultätskultur. „Erdkunde / Unterhaltung / Geschichte / Kunst & Kultur / Wissenschaft & Technik / Sport & Vergnügen.“ Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich Universitäten mit Instituten ausstatten, Zeitungen mit Redaktionen, Regierungen mit Ministerien.

Die einzelnen Erörterungen spielen also durch, warum Japan eine Zeitlang mit dem preußischen Heerwesen liebäugelte (98), warum die Gravitation nicht nur auf Kontinenten, sondern auch in der Erotik wirkt (134, oder ob die Donau nicht doch den Schraffuren der Melancholie folgt und nicht den Konstellationen von Gestein (38).

Wesentlicher Bestandteil der Gedankenspiele ist deren Zusammenfassung in kleine Merkkästchen, die in Gestalt von Prompts ganze Datenfluten künstlicher Intelligenz in Wallung bringen können. „Du weißt, was du tun musst! Oder warum(at)gmx.at“ (98)

Die Schwachpunkte in Argumentationen werden unbarmherzig zur Schau gestellt und der Finger in die Wunde des Kästchens gelegt: „Jetzt kommt alles raus. So reagiert unsere Urknalltheorie auf Grammatikfehler. Alle Reaktionen auf S. 139 (Urknalltheorie)“.

In regelmäßigen Abständen sind Bilder eingeblendet, die in doppelter Hinsicht irritieren. Einmal passen sie wie die Faust aufs Auge des Textes, und zum anderen passt der Untertitel wie die Faust aufs Auge des Bildes.

Diese plastische Formulierung mit dem „Faust aufs Auge“ wird durch Anwendung selbst zu einem Fremdkörper. Das Bild ist vielleicht eine Fläche, um darin eine Irritation unterzubringen. „Zum Geleit“ zeigt vier graue alte Männer aus grauer Vorzeit, wie sie schalkhaft in die Luft schauen. Der Kommentar lautet: „Jugendlicher [14, mittig rechts] überrascht von der Schönheit des freien Westens.“ (7) Im Bildverzeichnis ist freilich der Originaluntertitel angegeben. „Harris & Ewing: Speaker William Bankhead (right) with group, Libary of Congress. Public Domain.“

Diese Methode des disparaten Subtextes erinnert an die frühen Dokumentationswerke Alexander Kluges, worin er abendfüllende Kinoprogramme zwischen Seherwartung und Sehabschweifung installiert.

Die abschweifende Konnotation schafft neue Räume, indem sich das Publikum plötzlich umgeben von Nachrichtenmaterial empfindet, das sich weder als Sperrmull noch als Baukasten eindeutig verwenden lässt. Gleichzeitig ist das Sprachmaterial entgleist und hat den semantischen Track verlassen. Die politicalcorrectness steht auf dem Spiel, weil sie nicht mehr eindeutig den Begriffen zugeordnet werden kann.

Alles über alles“ wird endgültig zu einem Spiel, wenn das Buch als Spielanleitung gelesen wird. Im Idealfall treffen sich Leser zu einer Sitzung, nehmen das Buch Max Höflers in die Hand und beginnen zu schwadronieren: Über Gott und die Welt!


Max Höfler: Alles über alles oder warum.

Klagenfurt: Ritter 2024. 199 Seiten. EUR 19,-. ISBN 978-3-85415-664-2.

Max Höfler, geb. 1978 in Vorau, lebt in Graz.

Helmuth Schönauer 13/02/24



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2394

Heiter bis grantig

Alarm in der Geschichtsschreibung: Dieser Tage hält die Erforschung der österreichischen Zeitgeschichte den Atem an, weil die ehemalige Sozialministerien bei ihrem Ausscheiden aus dem Amt alle ihre Dienst-Akten für privat erklärt und unter Auflage einer 30jährigen Sperrfrist ins Archiv verbracht hat. Nach vorherrschender Rechtslage kann man die Geschichte eine Zeitlang vertuschen, wenn man sie für privat erklärt.

Unter diesem Aspekt ist es für die Zeitgenossen doppelt interessant, wenn jemand sein privates Denken für öffentlich erklärt und regelmäßig Glossen und Geschichten daraus formuliert. Diese Textsorte funktioniert nämlich zweifach: Einmal in Echtzeit und im zweiten Anlauf als erzähltes Kontinuum im Sinne des „emotionalen Archivs“. Glossen sind als sensibler Mikrokosmos am ehesten geeignet, den Sound eines Jahrzehnts für die unmittelbaren Zeitzeugen zu archivieren.

Stefanie Holzer und Walter Klier haben in den Nuller und Zehner Jahren ein einzigartiges Genre entwickelt und in der Tiroler Tageszeitung publiziert. Unter dem Titel „Heiter bis grantig“ sind verschieden lang geratene Geschichten in das Einheitsblatt der Tirolernden geraten, wobei Redaktion und Kreativ-Duo mit einem Open-End des Projekts rechneten. Trotz wechselnder Blattlinien und ständig erneuertem Blatt-Personal ging die Sache beinahe zwanzig Jahre lang gut, ehe dann zum Jahreswechsel 2020 der Tschüs-Artikel fällig wurde, sinnigerweise überschrieben mit „309 Das neue Jahr bringt Änderungen“. Für diesen Erinnerungsband sind folglich 309 Geschichten ausgewählt, die nach einer fünfjährigen Cooldown Phase frech und spitz daherkommen, als wären sie gerade erst geschrieben worden.

Die Auswahl ist durchnummeriert, chronologisch geordnet und als epischer Fließstrom angeordnet, der freilich durch die Partikel-Gliederung bei jedem Umblättern erfrischt. In der Galeriesprache könnte man sagen, die Texte sind neu gerahmt und blick-freundlich gehängt, sodass im veränderten Kontext durchaus neue Schwerpunkte auszumachen sind.

Beim Durchstreifen von Readern empfiehlt es sich, auf die drei Kreativ-Komponenten zu achten: a) Medium; b) Themen; c) Autorschaft

a) Die TT als Medium ringt sich im neuen Jahrhundert wie alle Printmedien dem Untergang entgegen. Das Publikum rinnt in Richtung Friedhof aus, die diversen Textsorten stehen unter enormem Druck der Digitalisierung, die Redaktion kämpft um Haltung und Richtung und verliert dabei auf jeden Fall Intellektuelle und Künstler, falls es solche in Tirol je gegeben hat.

Die Serie „Heiter bis grantig“ bleibt ein permanenter Pilotversuch, Globalisierung und Digitalisierung im regionalen Umfeld mit analogen Erfahrungen zu unterfüttern. Die Serie lässt sich auch als Schlingern eines Tagesmediums und seinem disruptiven Umgang mit dem Tagesgeschehen lesen.

b) Die Themen resultieren aus diesem Ringen. Alles, was für den Tagesjournalismus relevant sein kann, ist auch für den Glossisten relevant. „Heiter bis grantig“ erzählt ein Ereignis als erlebbare Geschichte, die Serie berichtet in lakonischen, oft auch ironischen Sätzen davon, was im Individuum passieren kann, wenn darin Tages-relevante Ereignisse einschlagen.

c) Stefanie Holzer und Walter Klier gelten spätestens seit der Herausgabe der Kult-Zeitschrift „Gegenwart“ als prädestiniert für diesen Akt der Transformation: Durch Geschichten-Erzählen letztlich Geschichte zu erzählen. In ihren „Neben-Leben“ treten sie zudem als Kleingärtnerin und Kleinmaler auf, beides Berufungen, die den Endverbraucher einer kolossal globalisierten Gesellschaft ironisch in den Mittelpunkt stellen.

Alle Wirtschaft trifft dabei auf den Horizont der Selbstversorgung Marke Robinson Crusoe, alle Medienkunst endet mit jener Fläche, die ein dem Biedermeier nicht ungewogener Maler innerhalb des Spannrahmens auszugestalten vermag.

Die Glossen in der Tageszeitung filetieren somit die Geschehnisse, die als Endloswurst aus dem Nachrichtenticker sprudeln, in menschelnde Erlebnishappen.

Der Sammelband, unmittelbar aus dem Licht des Tagesgeschehens gerückt, zeigt schon nach kurzer Zeit das „Epochale“ einer Epoche, für die wir noch keinen gültigen Namen haben, weshalb wir sie die Nuller und Zehner nennen.

Was haben die Tirolernden allerlei Geschlechts zwischen 2002 und 2019 gemacht? Welche Ausflüge haben sie unternommen? Lebten sie lieber in der Stadt oder auf dem Land? Wie gingen sie mit ihren Kindern um, wenn sie diese in kaputte Schulen oder gar zur Impfung schicken mussten? Wie redeten sie miteinander, wenn sie sich nichts zu sagen hatten? Wie gläubig waren sie gegenüber den Sätzen ihrer politischen Leitfiguren? Wie gingen sie mit Bären um, die plötzlich aus der Floskel vom aufgebundenen Bären herausstiegen und sich im Land breit machten?

Alle diese Fragen würde man heute einfach in die Google eingeben und die KI beantworten lassen. Der Witz ist allerdings, dass diese KI dann auf jene Geschichten zurückgriffe, die Stefanie Holzer und Walter Klier mit Ironie im Netz hinterlegt haben.

Heiter bis grantig“ trifft wörtlich genommen die Tagesverfassung jedes einzelnen von uns Lesern. Durch diese Geschichten nämlich sind wir erst imstande, unsere Laune zwischen den Gemütszuständen in Worte zu fassen.


Stefanie Holzer / Walter Klier: Heiter bis grantig. 309 kleine Geschichten aus der guten alten Zeit 2002–2019.

Buchholz: Laugwitz Verlag 2023. 250 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-933077-71-4.

Stefanie Holzer, geb. 1961 in Ostermiething, lebt in Innsbruck.

Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.

Helmuth Schönauer 20/02/24



GEGENWARTSLITERATUR 3340

tagewaise

Wenn der Begriff Waisenkinder neben dem sozialen Status allerhand Emotionen transportiert, müsste auch der Begriff Tageswaise Auskunft über die Zeit geben und gleichfalls das Herz der Leser rühren.

Ralf B. Korte rührt mit seiner Sammlung von Notaten durchaus an die Gefühle, die beim Aufzählen diverser Tageswaisen entstehen. Denn weder lässt es den Autor kalt, wenn Zeitpartikel scheinbar losgelöst von determinierten Zeiteltern herumschwirren, noch die Leser, welche diese vom Kontinuum abgetrennten Zeiteinheiten beiläufig entdecken, um sie für sich selbst geordnet zu archivieren.

Tagewaise“ ist eine Art aufgedröselte Chronik, bei der die diversen Stränge auseinandergenommen sind, um sie als dünne Fäden auf ihre Reißfestigkeit hin zu untersuchen. Als „Erzählfäden“ fungieren Einrichtungen im öffentlichen Raum, die in einem frischen Kontext genutzt werden. So transportiert das Einkaufsband an der Ladenkasse nicht nur aufgelegte Waren dem Scan entgegen, während die Waren Anlauf nehmen für den Akt des Bezahlens, erodiert zusehends der Begriff des Transportbandes und kümmert sich um Probleme der Bodenbeschaffung und Bodenversiegelung. Tatsächlich wäre die Installation einer Ladenkasse gar nicht möglich, wenn nicht zuerst die entsprechende Bodenversiegelung passiert wäre.

Eine weitere Methode, den Wert des Bodens zu bestimmen, liegt im möglichen Nutzen als Gelände für Familienaufstellungen. Für das Sichtbarmachen der Verhältnisse bedarf es eines handfesten Grunds, worauf die Beziehungen der Familienmitglieder fußen. Dieser Denkansatz nimmt den Begriff wörtlich wie einen Grund, welcher Boden und Kausalität in einem Aufwaschen auszudrücken vermag.

Während die einzelnen Notate werkeln, sind freilich andere Erzählfelder nicht ruhig gestellt, schwere Verkehre rollen vorbei (14), ehe sich eine persönliche Schattierung aus der Kindheit Bahn bricht. Wenn ein Sachverhalt auf den ersten Blick absurd erscheint, taucht im Hintergrund die Stimme des Vaters auf, der die Weltlage genervt dokumentiert. Aus seiner vorgeblichen Kenntnis über die Wunderkräfte der V2 resultiert ein permanenter Kommentar zu allem, was nach Rakete aussieht. Märchenhaft genau wird dabei jeweils das Abwerfen der ersten Raketenstufe gewürdigt, wenn sich das Geschoss selbst drei Wünsche in Form von Brennstufen erfüllt. Selbst der harmlose Begriff Christbaum erfährt durch Vater eine schreckliche Deutung, wenn er von der Beleuchtung bei der Bombardierung Dresdens spricht.

Motive aus dem Märchenland sprudeln vor allem am Waldrand hervor, bis hin zur Erkenntnis, dass alles magisch ist, das vom Rand ausgeht.

In die persönlich abgerufenen Quellen sind Zitate und Zusammenfassungen von Thesen eingeflochten. Das Raketenwesen kommt im Kleide der Popkultur zu literarischen Ehren, als 1969 Ferdinand Kriwet rund um den Apollomythos in New York einen solitären Hör-Kosmos entwickelt. Etwas später wird der Leitsatz ausgegeben: „Einfach so weiter machen“ (24), was sich auf alles beziehen lässt.

Den Schwerpunkt der Notate bilden diverse Analysen zu Werken, Vorgangsweisen und Rezepturen für die gültige Rezeption. Die Aneinanderreihung diverser Schlüsselbegriffe ergibt einen Querschnitt der sogenannten Avantgarde.

Aus Slangs Begriffe fischen Licht fällt wie im Roman Nouveau aus Lamellen „formuliere so dass trotz flüchtigem überlesen was wesentlich scheint hängen bleibt.“ (40)

Was daran ist Text? Es sind die klammen Finger, wenn der Text von diesen gehalten wird.“ (53)

Schritte am Kanal entlang provozieren die Stimmung, die in Graz herrscht, jeder zweite will weg. Dazwischen gibt es Meldungen von größeren Zusammenhängen, wenn die Klitschko-Brüder in der Nachricht auftauchen, ist verlässlich Krieg in der Ukraine. An anderer Stelle entlässt der Warschauexpress am Endbahnhof dicke Ströme von Migration.

Die Themenfindung funktioniert nach der Methode Streusand. Hartnäckig gilt es, die Tagesnotizen der Leute festzuhalten. Fallweise muss die Handlung dem Verlauf anpasst werden. Aber was verläuft? (130)

In einem hermeneutischen Zirkel umarmen sich die Notate lyrisch in sich selbst: „nachts dann der mond, wir kreisen uns ein“ (157)

Die Harmonie wird noch einmal jäh aufgebrochen durch ein scharfes PS: Rheinmetall erklärt den Patriotismus anhand von Standorten, an denen Waffen erzeugt werden. Das Geschäftsmodell Verteidigung lautet: Wo Waffen gebaut werden, ist Heimat.

Jetzt sind die verwaisten Stücke des Tages zu einer Gedankenkette aufgefädelt und schlüssig miteinander verbunden. - Eine grandiose Erzählung!


Ralf B. Korte: tagewaise. Notate.

Klagenfurt: Ritter 2023. 160 Seiten. EUR 23,-. ISBN 978-3-85415-665-9.

Ralf B. Korte, geb. 1963 in Ulm, lebt in Berlin und Graz.

Helmuth Schönauer 02/02/24



GEGENWARTSLITERATUR 3342

Die Geschichte geht weiter

Eines ist auf jeden Fall festzuhalten: Gemütlichkeit und Denken schließen einander aus.“

Peter Rosei warnt zur Vorsicht sich selbst und seine Leser vor einem allzu eingelullten Umgang mit der Literatur und ihren Protagonisten. Seit Jahrzehnten verfasst er zwischendurch Essays, die sich vor allem mit der Innensicht des Individuums beschäftigen. So kann bei ihm eine These über längere Zeit Gültigkeit haben, unabhängig vom Zeitgeist, wenn nur die Persönlichkeit standhaft bleibt gegenüber sich selbst.

Ein Beispiel für „ewige Verhältnisse“ ist die Freundschaft des Autors zu H. C. Artmann. Nach seinem Jus-Studium bleibt der Ich-Erzähler Peter Rosei mit seinem „Entwurf für eine Welt ohne Menschen“ 1975 literarisch in Salzburg hängen. Der Residenz Verlag nämlich ist dem Text gnädig gesonnen und macht das erste Buch daraus. Salzburg wird dadurch schlagartig zu einem hellen Ort des Wohlbefindens. Das hängt auch mit dem Umfeld zusammen, das sich damals als Künstlerkolonie hinter der Brauerei Mülln ausbreitet. Im Mittelpunkt steht dabei H. C. Artmann, der wie eine Nestroy-Figur gekleidet an einem Hühnerteil herum knabbert seine losen Zähne wackeln und er muss konzentriert beißen. Für den aufstrebenden Autor Rosei sind die Grenzen zwischen Literatur und Leben verwischt. Erst Jahrzehnte später kann er es halbwegs auf die Reihe bringen: Literatur ist Freundschaft über den Tod hinaus, man kann sie erst später als Erinnerung erkennen, nicht aber als Leben in Echtzeit.

Diese melancholische Schlussgeschichte der Sammlung scheint im Widerspruch zur eingangs evozierten Gemütlichkeit zu stehen, aber sie erzählt ja nur, dass das Denken zu einem abgerundeten, versöhnlichen Ende führen kann. Mit seinem Essay „Wie alles begann“ (153) verneigt sich der Autor auch vor seinem eigenen Antrieb, mit der Literatur in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten.

Die knapp dreißig Essays sind wie im guten Feuilleton nach Schwerpunkten rund um die suchende Seele ausgebreitet. Die Texte sind ausgewogen zwischen „Standard“ und „Presse“ aufgeteilt, ein weiterer Beleg dafür, dass Peter Rosei sich um das mit der Gegenwart ringende Individuum kümmert, weniger um politische Wellen, die den individuellen Seegang meist noch verstärken.

Die Kapitel sind als sechs Zugänge überschrieben, wodurch man einzelne Ereignisse gezielt aufsuchen kann. „Grundbegriffe / Sinn und Unsinn / Philosophisches / Politik / Reise / Literatur.“ Das sind auch die Beobachtungsfelder, die der Schriftsteller über die Jahre aberntet, wenn das eine oder andere Thema darauf reif geworden ist.

Die Herangehensweise an diverse Themen gleicht ein wenig jener des Robert Walser: Naiv hellsichtig lässt er Begriffe wie Glück, Dummheit, Liebe, Zwang oder Kitsch auf sich wirken, ehe er ein paar Zeilen darüber formuliert, was andere sagen oder er selbst schon erlebt hat.

Natürlich ist diese Methode des Walser wie des Rosei höchste Kunst, indem das Wissen um die Begriffe bescheiden zurückgenommen wird. Hinter jedem ausgesprochenen Satz steckt ein verschwiegener, der nur im Autor nistet und später vielleicht auch im Leser, wenn dieser aufmerksam bleibt bei der Lektüre.

Vom Glück“ (9) // Was Glück genannt wird, ist das deckungsgleiche Zusammenfallen einer inneren Verfasstheit mit äußeren Umständen“. Als Beispiel wird der Durst eines Wanderers angeführt, der just mit dem Einsetzen des Mangelgefühls eine frische Quelle erspäht. Das Glück arbeitet außerdem als Kategorie ohne Verstand, weshalb im Sprichwort gerade der Dumme das Glück hat. Leider gibt es deshalb auf der Welt mehr Unglück als Glück, lautet der Schlussbefund.

Eine weitere bemerkenswerte Herangehensweise an die Themen ist jene über das Bild, vor allem der Malerei. Das sind vielleicht die Spuren aus jener Zeit, in der Peter Rosei als Sekretär des Malers Ernst Fuchs gearbeitet hat. „Vom Gang der Dinge // Gehe ich in der Landschaft und sehe fern drüben große Wolken ziehen, komme ich mir angesichts ihrer Mächtigkeit klein vor, wie ein kleines Tier etwa, wie ein kluges Tier dazu. […] Der Mensch geht Tausende von Jahren in der Landschaft und such sich sein Leben einzurichten.“ (71)

An diese „Bilder aus Sätzen“ lassen sich dann allerhand Erkenntnisse andocken, unter anderem das Motto des Buches, das am hinteren Cover prangt. „Wie heißt der schönste Satz jeder Erzählung? Die Geschichte geht weiter.“

Die Essays sind zwischen 2021 und 2023 entstanden und haben ihren Platz in der Tagesaufmerksamkeit verloren. Höchste Zeit also, dass sie als Buch in konzentrierter Form nachzulesen sind.

Es wäre ewig schade um diese eleganten Analysen, Beschreibungen oder puren Notizen.

Wer hundert Jahre in die falsche Richtung gegangen ist, hat weit zurück. Es gibt aber kein Zurück. Zurück das ist die falsche Richtung.“ (80)


Peter Rosei: Die Geschichte geht weiter. Ungemütliche Essays.

Wien: Sonderzahl 2024. 158 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-85449-653-3.

Peter Rosei, geb. 1946 in Wien, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 18/02/24



GEGENWARTSLITERATUR 3342

Bruckner stirbt nicht

Wer von einem Genie erzählen will, braucht selbst einen genialen Einfall. Über das Musikgenie Anton Bruckner zu schwadronieren, braucht folglich eine mitreißende Rahmenhandlung.

Christian Schacherreiter löst diese generelle Aufgabenstellung an Künstlerbiographien souverän. Er führt in Gestalt eines umtriebigen Musikstudenten einen adorativen Musterbiographen ein, der dem Anton Bruckner zu Lebzeiten und vor allem in der Totenmaske die Noten von den Lippen liest. Durch diesen Kunstgriff können drei scheinbar unversöhnliche Strömungen als Ansporn genutzt werden.

a) Der Geniekult nach dem Motto: Bruckner ist tot, aber er stirbt nicht

b) Die Essayistik über die Musiktheorie Bruckners

c) Die Ironie zum Thema Provinz und Pathos

Der Erzähler und Vorantreiber des Romans ist ein gewisser Jakob Weinberger aus Waidhofen, der nach der Uraufführung von Bruckners Achter als Student so ergriffen ist, dass er beschließt, alles fahren zu lassen, um der einzige und wahre Biograph des Meisters zu werden.

(Als zeitgenössischer Leser politischer Vorgänge, denkt man bei diesem Lebenslauf des Erzählers sofort an einen politischen Konzertmeister aus Waidhofen, der als Nationalratspräsident ein Goldenes Klavier im Parament aufstellen lässt, um seine provinzielle Herkunft zu vertuschen.)

Im Roman werden in der Folge zwei Stränge gegeneinander erzählt. Einmal kommt vom Tod ausgehend nach hinten in die Kindheit führend das Leben Anton Bruckners zum Vorschein, es ist sauber in vier Sätze gegliedert und hält sich an die Locations Wien, Linz, St. Florian, auf dem Lande. Darin sind die Epochen vom anerkannten Komponisten rückführend über Provinz-Größe, Organist bis hin zum Chorsänger angesprochen.

Zum anderen kommen die Leiden des Biographen zum Vorschein, der aus Waidhofen nicht recht loskommt, aber in Wien nicht heimisch wird. Für seine Dispute steht ihm der Freund Raimund zur Verfügung, ein aufgeklärter Kommilitone, der jene Passagen essayistisch übernehmen darf, die dem erzählenden Bürschlein aus Waidhofen letztlich nicht zugemutet werden können.

Darin geht es um die Stellung der Kirche zwischen Himmel und Erde, um einen permanenten restaurativen Eingriff in die Staatsgeschäfte, um eine unaufgeklärte Haltung gegenüber der Kunst, die höchstens als theologisches Beiwerk zu fungieren hat.

Aus den beiden Erzählsträngen ergeben sich auch zwei Schicksale. Anton Bruckner ringt ständig um Überleben und Anerkennung außerhalb der Provinz, dabei hält er sich politisch stets zurück wie im Falle des Linzer Bischofs, der anlässlich einer Novell zum Ehegesetz vollends durchdreht und den Gottesstaat ausruft. Die Selbsteinschätzung Bruckners endet mit dem legendären Satz: „‘S ist eh nix g’scheg’n.“

Privat zahlt der Komponist offensichtlich einen keuschen Preis, indem er sich wohl ein paar Mal zu Liebesgefühlen aufrafft, ehelos aber seine hormonellen Kräfte in die Notenschrift hineinlegt.

Der Erzähler Jakob Weinberger hingegen verschwendet seine Gefühle zuerst mit dem Anbeten seines Meisters und dem Zusammentragen allerhand Notizen, er verlässt Waidhofen und lässt eine potentielle Verlobte so lange in der Provinz stehen, bis sie sich einen anderen sucht. Auch ihm zerstört das Musikwesen sozusagen eine bürgerliche Ehe. Einen weiteren Niederschlag erleidet er, als er feststellen muss, dass schon ein anderer bei Bruckner um die Biographen-Hand angehalten und alle Dokumente über ihn gesammelt hat. Auch der Rezensent steht vor dem Dilemma, dass er in der Provinz nichts ausrichten kann, weshalb er dann doch in Wien hängenbleibt und eine offizielle Karriere als Musikkritiker einschlägt.

Die beiden Stränge Musik und Rezeption sind mit Originalzitaten unterlegt, die jeweils einen lakonischen bis sarkastischen Ton hervorheben.

Große Theorien werden dabei durchaus schlicht zur Sprache gebracht, etwa dass Bruckner nur ein Stück geschrieben habe, das er in verschiedene Symphonien zerlegt hat. Oder dass seine Symphonien aufgebaut sind wie das Stift St. Florian, jedem Flügel und Gewölbe wird eine einzigartige Gestaltungsweise zuteil.

Die jeweilige Zeitgeschichte kommt einmal als belanglose Hintergrundgestaltung für Bruckner und ein andermal als hyperventilierende Studentenwelt des Weinberger zum Vorschein.

Christian Schacherreiter bringt genüsslich alle Fallstricke und Intrigen des Rezensionswesens zur Sprache. Als Musikjournalist weiß er gekonnt zwischen den Elementen Genie und Wahn zu spielen. Die wahre Ehrfurcht zeigt sich in der Fallhöhe, die der Betrachter dem angebeteten Subjekt eingesteht. Christian Schacherreiter blickt Anton Bruckner ziemlich direkt ins Gesicht!


Christian Schacherreiter: Bruckner stirbt nicht. Roman.

Salzburg: Otto Müller 2024. 316 Seiten. EUR 28,-. ISBN 978-3-7013-1315-0.

Christian Schacherreiter, geb. 1954 in Linz, lebt in Linz.

Helmuth Schönauer 22/02/24



GEGENWARTSLITERATUR 3345

So ein Mensch

Allein schon der Tonfall, mit dem man über die Menschen spricht, macht sie zu Opfern, Tätern oder Idolen. Das klassische „Ecce Homo“ lässt sich als Seufzer übersetzen, „so ein Mensch“ oder bewundernd auf- und abwertend im Sinne von „so ein Schlingel“.

Daniel Stögerer rückt mit seinen fünf Erzählungen den Menschen im Kosmos Kleinfamilie auf den Leib, indem er von Krisensituationen berichtet, die sich durch Therapien weder verhindern, beschleunigen oder wegreden lassen. Im Volksmund ist oft von einem Teufelskreis von Ursache und Wirkung die Rede, wenn es eine arme Haut nicht schafft, halbwegs beizeiten wieder ein selbstgesteuertes Leben zu finden. Und die Zeit heilt alle Wunden, aber die Heilung kann nicht beschleunigt werden, lautet eine andere Bemerkung, die über gequälte Helden oft ausgestreut wird.

So ein Mensch“ (7) ist beispielsweise der dreijährige Mattheo, der sich von der Mutter schon abgeschaut hat, wie man ein Handy entsperrt, dennoch aber mit klassischem Spielzeug operiert, wenn er beobachtet wird. Man hat ihm die Oma Aurelia in die Kindheit gestellt, die nach einem Schlaganfall ein Spielball für Pflege geworden ist. Mattheo nimmt alles als Spiel, draußen machen die größeren Kinder auf „Bundesheerler“ und schießen sich über den Haufen, drinnen liegt Aurelia und zuckt unter Erinnerungsschüben zusammen, weil sie noch echte Soldaten aus dem großen Krieg vor Augen hat. Zwischen Lähmung und Spiel macht sich Mattheo bereit, ein Mensch zu werden.

In den Abgrund“ (35) führt gerade die Ehe von Petra und Hermann, die Scheidung können sie sich nicht leisten, weil sie im Substandard zusammengekettet sind. Petra putzt in der Schule und jagt mit dem Kleinwagen von einer prekären Baustelle zur nächsten. Zwischendurch erfährt sie, dass die Tochter wieder schwanger ist. Zu Hause bringt sie es angesichts des großen Bauches ihres Mannes nicht über die Lippen, ihm diese Bauchbotschaft zu verkünden. Lapidarer Seufzer: „Das tut sich keiner freiwillig an.“ (40)

Einen Tag“ (51) müssen die Schwestern immer zum Vater, der samt seinem Motorrad überraschend ausgezogen ist. Es ist ausgemacht, dass die Töchter ihn einen Tag lang besuchen, damit eine Art Illusion von Restfamilie erhalten bleibt. Zuhause weint die Mutter indes durch, sie kann noch immer nicht fassen, dass sie jetzt ein „Restel“ sind, wie man es von übriggebliebenen Speisen sagt. Die ältere Tochter hat gerade den Führerschein bestanden und macht die erste Ausfahrt, die jüngere packt ihr großes Schmetterlingsheft ein. Bald einmal hat die ältere genug, „es ist eh schon länger als ausgemacht“ (64). Prompt vergisst beim jähen Aufbruch die jüngere ihr großes Heft. Das Zusammenwachsen der Bruchstücke wird länger dauern als einen Tag.

Wirklich“ (72) nennen die Jugendlichen jenen Zustand, wenn sie von der Arbeitsvermittlung hinausgeschickt werden in einen Betrieb, um etwas zu lernen. In diesem Verschickungsmodus will keine rechter Wirklichkeitssinn entstehen, was sich auch auf das Private auswirkt. Der Held verlässt seine Saisongeliebte, weil er es von der Arbeitswelt so gelernt hat. Arbeitsstelle und Liebesstelle, beides ist unter den Jugendlichen noch sehr fluktuierend. „Präsentierts eich gut!“ ruft ein Ausbildender, und es ist nicht klar, ob der Arbeitsplatz oder die Liebe gemeint ist.

So wie du?“ (100) Dieser Schreckensruf entfährt dem Freund Gustls, als er ein verlorenes Schicksal final betreuen muss. Gustl hat sich versoffen und wird von seinem langjährigen Arbeitgeber gekündigt. Ehe die Verhältnisse klar angesprochen werden, flüchtet sich der Alkoholiker meist in dumpfe Schleifen der Wahrnehmung. Gustl macht sich an Edith heran, die eben besoffen bei der Taxiprüfung durchgefallen ist. „So wie du?“ entfährt es auch ihr, als sie den schwer betrunkenen Gustl noch einmal empfängt. Sie hat sich gerade mit ihrer Geige ein wenig abgelenkt, das letzte, was ihr aus einer unversehrten Zeit geblieben ist. Gustl wird gewalttätig und zerschlägt zuerst das Instrument, später die Frau. Am nächsten Tag wird der blaue Fleck mit Sturz und Dunkelheit im Stiegenhaus umschrieben. Aber der Freund hat jetzt kein Erbarmen mehr und beginnt mit einer Radikalkur. Die Sätze werden ab jetzt nicht mehr für das Vertuschen geduldet.

Daniel Stögerer erzählt von diesen Klein-Soziotopen, in denen es drunter und drüber geht. Es scheinen höhere Mächte am Werk zu sein, welche die Helden in diese trüben Situationen bringen. Mitleid ist keine Lösung, Therapie und Aussitzen hilft schon eher. Aber letztlich sind diese Verunreinigungen in der glatten Biographie etwas zutiefst Menschliches. So ein Mensch eben.


Daniel Stögerer: So ein Mensch. Erzählungen.

Graz: edition keiper 2023. 141 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-903322-99-8.

Daniel Stögerer, geb. 1997 in Oberwart, lebt in Wien und St. Lorenzen am Wechsel.

Helmuth Schönauer 04/02/24



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2393

Wer trägt das Licht in den Tag

Vielleicht sollte man Lyrik ähnlich auf sich wirken lassen wie Bilder von der Outdoor-Staffelei, die in einer friedlich unversehrten Landschaft aufgestellt ist.

Vera Vieider macht sich in ihren Gedichten auf den Weg, das Helle und Weite zu suchen, das durchaus in Gestalt eines Gefühlssturms auf das Individuum einwirkt. Wie Wattebausch auf einem staunenden Gesicht reizen die Gedichte die Sinne, einem stetigen Fahrtwind ausgesetzt. Die sogenannte lyrische Staffelei ist aufgestellt und blickt in alle vier Hauptrichtungen:

- Wo das Meer beginnt (5)

- Wenn Sturm aufkommt (23)

- Wie im Deckweiß das Land (39)

- Wer trägt das Licht in den Tag (63)

Komplettiert wird dieser lyrische Kompass von einem Cover, das in seiner paradigmatischen Art erwähnenswert ist: Auf einem abgedunkelten Himmelblau sind neun schwarze Flunsen zu sehen, die in ihrer luftigen Anordnung als Vögel gedeutet werden können. Sie schwirren teils als solitäre Punkte durch das Firmament, teils bilden sie nach Art die Gestirne ein „Vogelbild“, auf das man seine Navigation ausrichten kann.

Die gut sechzig Gedichte kreisen in der Folge um die Begriffe Weite (Meer), Wetter (Sturm), Land (Deckweiß) und Licht (Tag).

Ein erster Motivbogen führt entlang der Küste über die südlichste Düne (11) und über Klippenrand (12) zu einer Ankerstelle, an der ein poetischer Schnappschuss aufzieht. Die Farben sind labil, die Flut beginnt sich in sich selbst zu verschieben, ein Anker fixiert die Farben und ist selbst festgemacht mitten im Kopf.

In den Lichtritzen ist gegen Abend ein lyrisches Ich zu erkennen, das seinem Partner einen Klang aus den Wangen zupft, ehe das Schweigen zu einem Sound wird, der Glück verheißt. (17)

Später wechselt das Glück die geographischen Breiten und bleibt unter einem Kirschbaum liegen, über dem der Tag soeben ein Rad geschlagen hat. „so vergessen wir die Stunden / die Namen der Tage / als wäre es ganz einfach / zu bleiben“ (29)

Wieder geht es im vollen Fahrtwind in eine Region, die gerade die Jahreszeit gewechselt hat. Nebel ziehen auf, heißt es eisig, wenn sich das Dezembergrau über die Felder legt. Kälte ist angesagt über dem trockenen Staub, der aus der Fläche aufsteigt.

Der Blick nach oben bleibt in der Himmelskälte hängen, das ein Flugzeug durchpflügt. In einem anderen Gedicht, in einem anderen Himmel, setzt sich abermals ein Flugzeug fest.

Dort // Ein Flugzeug / weit oben am Himmel / das Jahr hat Geburtstag // gelbes Licht schwimmt im Blau / über Wolken // dort / legen wir die Hoffnung / zwischen die Tage“ (75)

Je länger dieses Gedicht aufgeschlagen vor den Lesern liegen bleibt, umso grimmiger wird der Sinn, der aus der Idylle hervorbricht. Jemand hat die Farben Blau und Gelb vor Augen und wird den Krieg nicht mehr los, der unter dieser Fahne tobt.

Das Gedicht lässt sich nicht mehr umblättern, es ist das letzte des Gedichtbandes. Die schlichte Verortung mit „dort“, lässt es überall wirken, überall ist dort.

Schon zuvor ist der Titel „Wer trägt das Licht“ als Frage aufgebrochen, die niemand beantworten kann. Jemand versucht eine Deutung, und sammelt einen Wunsch ein, wie das Licht getragen werden könnte. „Jene Tage // die mit den Wolken ziehen / ein Kommen und Gehen / ein Dauern / vielleicht“ (69)

Vera Vieider nimmt die zarteste Form der Lyrik in ihr Repertoire auf, es sind diese Liedformen, zwei drei freie Strophen, die den Klang zu einem Tropfen der Zeit ausformen, wie Gedichte manchmal genannt werden.

Es sind Miniaturen, wie sie in der Musik oft nachhallen, wenn die Hauptmelodie schon längst geschlossen ist. Das Ohr hört Nachts Sonatenklänge, heißt es bei Georg Tragkl unverblümt in seiner Musik im Mirabell. Eine Art Lichtklang wird auch hier zum Schwingen gebracht, wenn es über lichte Stellen heißt: „Dieser Ort / ist mir so nah // im Erinnern / weck ich / das Bleiben // die Haut zu berühren / an lichten Stellen / wie das Streichen der Sohlen / über nasses Gras“ (74)

Jetzt hängen die vier Windrichtungen der Poesie erschlafft zu Boden, die Staffelei ist zusammengepackt, Meer, Sturm, Deckweiß und Licht haben ihr Tagwerk getan.


Vera Vieider: Wer trägt das Licht in den Tag. Gedichte.

Innsbruck: Laurin 2024. 80 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-903539-38-9.

Vera Vieider, geb. 1988 in Meran, lebt in München.

Helmuth Schönauer 16/02/24