Buch in Pension – Rezensionen 2023|04


Elisa Asenbaum: Interirdisch. Gedichte.

Norbert Gstrein: Mehr als nur ein Fremder.

Peter Hofinger: Seelen-Abwasser. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden.2

Markus Köhle: Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts.

Martin Kolozs: Auch Kannibalen essen mit Besteck.

Kurt Leutgeb: Berlin & Paris. Roman.

Martin Maier: Engstelle.

Boris Schumatsky: Böse ist gut. Essay. / Die Trotzigen. Roman.

Stefan Verra: Körpersprache gendert nicht.

Irene Wondratsch: Kein Flugzeug am Himmel. Momentaufnahmen.



GEGENWARTSLITERATUR 3185

interirdisch

Was für eine Verknüpfung des horizontalen Himmelsgewölbes mit einer vertikalen Tiefbohrung in den Untergrund! In manchen Mundarten wird das Wort „interirdisch“ wie selbstverständlich verwendet, um das Sichtbare mit dem Unsichtbaren zu verknüpfen.

Elisa Asenbaum- stellt mit „interirdisch“ ein Projekt vor, in dem Gedichte und Bilder stets aufs Neue verknüpft werden. Gespeist wird dieses fragile Kunstwerk für den radikalen Augenblick der Realisierung aus einem Textdepot mit etwa vierzig Einzelgedichten, sowie einem Zyklus „Freefly“. Diesen Gedichten stehen zwölf mit römischen Ziffern nummerierte Bilder aus der Serie „interirdisch“ gegenüber, wobei witzigerweise statt der Elf eine Dreizehn auftaucht. Selbst das fragilste Konstrukt braucht eine Dreipunkt-Auflage, um halbwegs gesichert den nächsten Augenblick zu überleben, weshalb als dritte Komponente kursive Texte aus der Wissenschaft eingefügt sind. Dabei geht es um Versuchsanordnungen, Experimente mit Raum und Zeit, und Essay-Entwürfe für eine befreite Gesellschaft.

Im Vorwort streicht Herbert J. Wimmer ein paar denkbare Definitionen für das Konzept heraus, am poetischsten erscheint dabei die Fügung: „Wir reden über Muster im Lebensteppich.“ (7) Assoziativ werden nach dieser Lesart die Stränge Literatur, Wissenschaft und Kunst zusammengeflochten.

Bei assoziativ arbeitenden Konzepten lohnt es sich, eine Art Rahmen zu definieren, in den die einzelnen Reaktionsvorgänge eingearbeitet sind wie die Kettenreaktion bei einem Reaktor.

So arbeitet sich der Zyklus „Freefly“ mit poetischen Knisterpunkten über die Freiheit durch Szenen, worin die persönliche Freiheit auf die Befreiung von der Gesellschaft trifft.

ich möchte frei sein / von den gesellschaftlichen Zwängen / von den Grenzen meines Körpers /von den materiellen Sorgen / ich möchte frei sein von der Schwerkraft / und … fliegen!“ (97) Diesem Wunsch ist ein Bild der Beschleunigung beigefügt, worauf es ähnlich der berüchtigten Rotverschiebung zu einer Schwarzweiß-Verschiebung kommt, ein kugeliges Etwas, ein Meteorit oder ein Teil einer Zelle oder was, bewegt sich mit Kondensstreifen der Beschleunigung von links nach rechts.

Das Gedicht wäre vor kurzem noch als esoterische Morgenübung zur Befreiung durchgegangen, mittlerweile sind die unschuldigen Begriffe freilich alle vom Ende der Welt her zu denken. Im Kontext der Klimakatastrophe gilt der Wunsch nach „fliegen“ als Verballhornung ehemaliger Freiheitsträume.

Oft sind kursiv auf der linken Buchseite Texte der Wissenschaft eingestreut, einem Beitrag über Wolkenbildung und Kernfusion (18) steht dann ein mit „Werdestrom“ überschriebener Empfindungstext gegenüber, der die Auswirkungen der physikalischen Versuchsanordnung auf die „Versuchsauswirkung am eigenen Körper“ zeigt.

Werdestrom // kalt kalt / der Wald der Wolken / walken / kein Wollen / kein Welken / kontrahieren es im Kühl / klüftend klumpt der Stoff / ‘Wasser_Stoff’“ (19)

Bei assoziativer Lektüre verknüpfen sich bekanntlich nie die Gesamten Texte miteinander, sie würden dann die Konsistenz eines Fließtextes aufweisen, sondern einzelne Elemente springen jeweils aus dem Gedicht und verkleben sich mit Schlüsselbegriffen des nächsten Textes, und so fort.

Eine solche Assoziationskette lässt sich je nachrTagesversfassung stets neu aufbauen und über die Grundtexte legen.

Zwischen wirklich (14) - Nie sind wir ganz 16 – Dort (23) - Ein-fall (30) - zwischenzeitig irdisch (46) - Bleibende Blätter (55) Geisthüllen (67) - Spiele ohne Brot (75) - Das falsche Wort (79)“

Vermutlich wird sich jeder Leser insgeheim eine solche Assoziationskette schmieden, in deren Glieder er seine persönlichen Erwartungen hineinlegt, die später durch den Originaltext ergänzt oder dekonstruiert werden.

Die bleibenden Blätter beispielsweise sind für einen Archivar das höchste Gut, das eine botanische Saison hervorbringen kann, das flüchtige Zellgewebe für die Produktion von Sauerstoff wird in den Händen des Archivars zu einem beständigen Auskunftsblatt, auf dem verzeichnet ist, was eine Gesellschaft für fix gehalten hat.

Das falsche Wort ist ohnehin nur persönlich zu stigmatisieren, im Gedicht sind freilich hilfreiche Falschheiten angeführt wie sie leicht entstehen, wenn man Lesefehlern aufsitzt.

Muntermund >< Muttermund; Wirrschaft >< Wirtschaft; Ausschluss >< aus Schluss“ (79)

Ein Rezensent wird sich aus dem „Spiele ohne Brot“ ein Verfahren zum Dechiffrieren von Gedichten herausklauben, ehe er dann vom Original korrigiert wird: „Das Werk verwerfen / Du kommst nicht? /Denn sehen wäre leblos / Mein Anruf ist hinweg“ (75) Hier löst sich offensichtlich ein Werk beim Spiel zwischen urhebender und rezipierender Person in Nichts auf, ein Spiel ohne Brot, vergleichbar mit einem Aufstrich, der keine Unterlage hat.

Elisa Asenbaum gelingt es, „interirdisch“ in die Leser einzudringen und ihnen Verfahrensweisen, Verknüpfungen und Verstörungen zu implementieren, damit sie die Texte irritiert vergnüglich lesen.


Elisa Asenbaum: Interirdisch. Gedichte. Bilder. Mit einem Vorwort von Herbert J. Wimmer.

Wien: Edition fabrik.transit 2023. 124 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-903267-50-3.

Elisa Asenbaum, geb. 1959 in Wien, ist Begründerin der G.A.S.-station Berlin.

Helmuth Schönauer 08/05/23



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2363

Mehr als nur ein Fremder

Ein großkalibriger Autor muss im gegenwärtigen Literaturbetrieb drei Kanäle speisen: Einmal muss er regelmäßig Werke liefern, die einer letztlich sehr engen EU-Norm entsprechen. Zweitens muss er täglich seine Bereitschaft erklären, Preise, Stipendien und Uni-Auftritte zu absolvieren. Und drittens muss er am Branding der eigenen Biographie arbeiten, die im Idealfall zu einem Mythos ausgerollt werden kann.

Norbert Gstrein füttert alle diese Kanäle professionell, wobei das Professionelle vermutlich darin besteht, dass er alles mit stiller Ironie absolviert. So ergibt sich bei seinen Büchern immer eine gewisse Irritation, wie ernst das Gesagte nun gemeint ist, und ob es nicht letztlich gar eine Verhöhnung des Publikums ist, wenn der Autor läppisch das erfüllt, was sich eine von Germanisten angeführte Freundesschar vage von ihm erwartet.

Mehr als nur ein Fremder“ fasst poetische Vorlesungen, Festvorträge zu Preisverleihungen, Nachworte zu Klassikerausgaben und Originalbeiträge zum Fremdsein geschickt zusammen, sodass ein starker Gestus von Roman spürbar wird.

Der Autor spielt in der obersten Liga, indem er nur große Preise annimmt, nur über Weltliteratur Kommentare verfasst, und seine Lektüre ausschließlich danach aus richtet, dass sie für internationales Festpublikum aufgetischt werden kann.

Auf dieser großen Orgel spielt er an den Manualen „internationale Literatur“ wie Franz Kafka, William Faulkner oder Thomas Mann, greift in die Tasten zum Thema „verstecktes Afrika“ und tritt kurz in die Pedale unter dem Aspekt „verlorengegangener Tiroler“.

Fangen wir vielleicht mit den „Fußtritten“ an, die sich als äußerst ironische Überlegungen an das Rollenbild eines heimatlosen Schriftstellers heranpirschen.

Der Autor entwirft zu Beginn eine Skizze über das Wunderkind, das er nie war. Zu diesem Zweck verkündet er die These, dass er auf der Suche nach seiner Kindheit nach Wyoming geflogen sei, um einen verschollenen Ex-Schirennläufer aus Tirol zu besuchen. Dieser öffnete ihm kurz die Türe seiner Blockhütte im Schnee und tat kund, dass seine Kindheit in Ordnung gewesen sei, denn es gab ja genug Schnee, so wie er ihn jetzt in Wyoming genieße.

Hinter dieser Geschichte könnte vage die Figur eines Osttiroler Olympiasiegers im Slalom stecken, von dem man bis zu seinem Sieg nichts wusste, und der nach dem Sieg auch sofort wieder im Schnee Amerikas verschwunden ist. In Lienz hat ihm der Alpenverein eine Zeitlang eine Pepi-Hütte gewidmet.

Ungefähr so könnte der Autor seine eigene Biographie in Auftrag geben: unbekannt bis zum Erstling, den er auf einem amerikanischen Campus während eines Mathematik-Stipendiums geschrieben hat, unbekannt zwischen jedem Roman, und seltsam fremd wie eine Figur aus Wyoming, wenn er zwischendurch in den Schnee vor dem Hotel des Großvaters im Ötztal zurückkehrt.

Gegen Schluss überschreibt Norbert Gstrein eine andere Skizze gar mit dem lachenden Hinweis: „Für meine Biographen“. Also wenn diese was brauchen, dann sollen sie jene Teile verwenden, die er ihnen jetzt mit dem Buch „Mehr als nur ein Fremder“ zur Verfügung stellt.

In der Abschlussskizze bringt ein Autor, der gerade einen Gstrein-Roman verfasst hat, Rezensionsexemplare zur Post und trifft dabei auf prekär arbeitende Menschen aus allen Kontinenten, die jene Literatur als Paketdienste zustellen, die er soeben prekär arbeitend als Literatur verfasst hat. Der Titel heißt völlig zerzaust: „Was du wolle“. Damit ist eine schroffe Sprachbeherrschung ebenso konnotiert wie der aggressive Seufzer, was willst du überhaupt?

Irgendein Preis ist in Göttingen fällig, für den Autor stellt sich die Frage, wie kriegt er die Kurve von seinem Tun hin nach Göttingen. Als germanistischer Ideenblitz bietet sich der Mathematiker Gauß an, der die Gaußsche Kurve erfunden hat, während er in Göttingen dozierte. Schon während des Studiums war dieser Gauß für den Mathematikstudenten Gstrein eine große Nummer, der er entgegen gelechzt hat, wie jetzt Gstrein-Fans ihm entgegen lechzen. Die Parallele zwischen Literatur und Mathematik ist bestechend, in beiden Segmenten braucht es Genies, Kult, Preise und Stipendien, in beidn Arbeitsfeldern steht das unlösbare im Mittelpunkt, nur dass die Mathematiker eine klare Sprache dafür haben, während in der Literatur das Klare verpönt ist. Man nehme nur das Geschwurbel her, mit dem die Literaturwissenschaft betrieben wird - an einer Stelle heißt es gar, jeder Autor sollte ein paar Semester Logik studieren, damit er sich wenigstens halbwegs ausdrücken kann.

Faulkner als Nobelpreisträger ist immer gut für einen großen Text. Im Kern des Buches (Mehr als nur ein Fremder, 117) leistet Gstrein ziemlichen Widerstand gegen den US-Starautor, dessen politische Haltung letztlich Rassismus gewesen ist. Seine Darstellung des amerikanischen Südens hätte man ihm schon zu Lebzeiten (18971962) nicht durchgehen lassen dürfen. Ein entscheidender Satz eines Süd-Helden lautet: „Für was habt ihr eigentlich gekämpft? Ich weiß es nicht.“ (121). Die Antwort wäre gewesen, weil wir die Sklaverei wollten.

Wenn Faulkner etwas falsch gedichtet hat und dies nicht mehr zu vertuschen war, schrieb man es dem Trinken zu, einer Grundvoraussetzung jener starken Schreibertypen, die in der Literaturgeschichte über Jahrhunderte verehrt werden.

Ab und zu legt Gstrein eine falsche Spur zu sich hin oder von ihm weg, je nachdem, was die Biographen und Preisauswähler im Schilde führen.

So besteht eine gute Chance, einen Roman halbwegs gelungen hinzukriegen, darin, dass man für ihn „noch nicht das Letzte gibt“, damit man sich nicht verkrampft. Wer das Letzte gibt, schreibt auch das Letzte. Daher immer ein paar Sollbruchstellen einbauen, an denen sich die Kritiker die Finger blutig kratzen können.

Ein überirdisch guter Erzähl-Streich ist Gstrein übrigens mit jener Figur gelungen, die eigentlich „schwarz“ ist, aber von der nie als schwarzer Eigenschaft die Rede ist. Im Idealfall kann man also über die Hautfarbe so aufgeklärt und gelassen schreiben, dass niemand mitkriegt, welche Hautfarbe jemand hat. Und wenn es jemandem auffällt, so hat er vielleicht als Leser ein Defizit. Der Autor nämlich hat zur Umgehung der Ethno-Falle alles richtig gemacht, indem er nichts konnotiert, was ein ethnisches Reizwort beinhaltet.

Schalk, Selbstironie, humorvolles Abwinken dummer Vermutungen Norbert Gstrein ist ein raffinierter Aufdecker blöder Rituale im Literaturbetrieb.

Ja, den Kafka hat er auch machen müssen, dienstlich sozusagen, wie man als Star in der Premier League ab und zu verdrossen eine Ecke treten muss. Gute Literatur sei jene, die den Literaturbetrieb überlebe. Kafka sei so einer, dem nach dem Tod der feierliche Tumult nie geschadet hat.

Norbert Gstrein könnte auch so einer sein, mehr als nur ein Fremder wäre dann ein Überlebender.


Norbert Gstrein: Mehr als nur ein Fremder.

München: Hanser 2023. 192 Seiten. EUR 24,70. ISBN 978-3-446-27665-9.

Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils/Imst, lebt in Hamburg.

Helmuth Schönauer 12/05/22



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2362

Seelen-Abwasser

Wenn die Blase versagt, beginnt die Literatur erst richtig zu wirken. Die Kraft der Literatur steckt zwischendurch darin, dass sie Grenzgängerin ist und regelmäßig jenen Schubladen entsteigt, in die man sie zu jeder Epoche aus pragmatisch-pädagogischen Gründen einlagert.

Peter Hofinger wählt mit seiner „Selbstbeschreibung der Kindheit“ eine Erzählform, die Elemente der Zeitgeschichte und der pädagogischen Vertuschung mit den Mitteln der seufzenden Autobiographie und transzendenten Bewusstseinserweiterung durch Esoterik bedient. Kraftvolle Literatur hat meist einen Anlass, und ihr Segen besteht darin, dass sie diesen Anlass überwindet.

Der Titel „Seelen-Abwasser“ deutet auf Ungemach bei der Entsorgung von Konflikten hin. Der physiologische Stoffwechsel scheint bei der erzählenden Person durch psychische Beeinflussung gestört zu sein.

Die Aufzeichnungen beginnen mit einem Knalleffekt: Die Blase macht eines Tages zu, als wolle sie dem Blaseninhaber etwas mitteilen. Der Betroffene lässt sich medizinisch tapfer abklären, vermutet aber bald, dass es sich um eine alte Geschichte aus der Kindheit handelt, die jetzt endlich erzählt werden will.

Vom eigenen Körper in Anspannung versetzt, versucht der Ich-Erzähler seine Kindheit so zu erzählen, dass Nachfahren und Zeitgenossen eine gewisse allgemeingültige Wahrheit daraus schöpfen können.

In seiner Kindheit ist viel schiefgelaufen, aber der Erzähler ist dann irgendwie noch erwachsen geworden und hat schließlich als gelernter Sozialarbeiter als Buchhändler Lebensfrieden und Lebenssinn gefunden

Jeder Generation üblicherweise wird ein gewisses soziales Handicap zugeschrieben, die einen leiden unter Migration, die anderen unter Armut, die dritten als Scheidungskinder. Für die meisten, denen in der Kindheit in den 1950er Jahren etwas daneben gegangen ist, gilt als Ursache des Unglücks die Dreifaltigkeit: Katholisch – männlich – Internat.

Der Held macht eine katholische Zwangserziehung mit frommer Mutter durch, ist nur von Brüdern umgeben und landet schließlich im Internat. Dort entwickelt er sich zum Bettnässer, wahrscheinlich eine Antwort auf das Erziehungsdesaster.

Die Eltern meinen es natürlich gut mit ihm, aber sie sind überfordert. Sie leiten in den Nachkriegsjahren ein Elektrogeschäft, und die hellen Momente bestehen in der genauen Watt-Angabe der Glühbirnen. Schon früh weiß der Kleine, was sich zwischen 15 und 150 Watt alles an Erleuchtung abspielen kann. Außerdem tut sich zwischen Schein und Sein eine immer größere Kluft auf. Während die Geschäftsleute als angesehen gelten, gehen die Geschäfte schlecht.

Konkurs, das Zusammenbrechen der Eltern, der frühe Tod des Vaters, Loslösung aus dem Internat, ständiges Herumziehen und schließlich seltsame Erfahrungen bei einem Praktikum als Sozialarbeiter lassen die Erkenntnis wachsen, dass die Welt nie so ist, wie sie sich zeigt.

Wie bei jedem Heranwachsenden besteht das Problem der Erziehung darin, dass man nicht weiß, was wichtig ist und was nicht.

Der Erzähler hilft sich damit, dass er alles für gleich wichtig hält, zumindest für so wichtig, dass daraus eine Geschichte entsteht. Da wird das Buch auch fallweise recht komödiantisch, wenn verschiedene Kämpfe mit den Brüdern geschildert werden, die Vernichtung eines Eintags-Statussymbols eine Lebenskrise auslösen kann, und das eigene Tun plötzlich unerwartete Nebenwirkungen hat.

Einmal leiht sich der Heranwachsende vom älteren Bruder ein Zelt aus unter der Bedingung, es nach Gebrauch trocken zu refundieren. Als der Bruder Monate später mit dem Zelt zu einem erotischen Ausritt aufbricht, stellt sich das Gewebe als verschimmelt heraus. Eine Unachtsamkeit des Einen führt zu einer Tragödie des anderen, denn dieser muss sein erotisches Erlebnis wieder bei Null beginnen, als er plötzlich im verschimmelten Zelt aufwacht.

Wahrscheinlich sind es diese kleinen Aufmerksamkeiten und Fahrlässigkeiten, die den Autor dazu bringen, schließlich an den winzigen Momenten zu arbeiten, den Dingen auf den Grund zu gehen mit einer große Harmonie zu flirten, die offensichtlich darauf wartet, berührt zu werden. So in etwa entsteht aus dem ehemaligen HAK-Schüler mit Schwerpunkt Buchhaltung ein Lebensberater Marke Buchhändler.

Das geordnete Wasserlassen gilt oft als die erste Erziehungsmaßnahme, die ein Mensch über sich ergehen lassen muss. Gelingt es nicht, rächt sich die Blase verlässlich, und sei es mitten im Glück des reifen Alters.

Seelen-Abwasser“ ist der Versuch, sein Leben durch sachte Erinnerung von Kindheitskrämpfen zu befreien. Dieser Bericht vom Erwachsenwerden ist eine letztlich positiv gestimmte Resonanz auf ein Erziehungsmodell, das gut gemeint aber flächendeckend schiefgegangen ist. Das Buch ist ein wichtiger Bestandteil für das sogenannte „emotionale Archiv“. Darin werden neben Dokumenten, Zeitzeugenberichten und journalistischen Meldungen auch jene Fakten beschrieben, die nicht fassbar sind. Aber erst sie runden die Einschätzung einer Epoche fürs erste ab.


Peter Hofinger: Seelen-Abwasser. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Norderstedt: BOD 2023. 245 Seiten. EUR 17,40. ISBN 978-3-748-14141-9.

Peter Hofinger, geb. 1955 in St. Johann in Tirol, 33 Jahre Buchhändler, lebt in Mieming.

Helmuth Schönauer 19/04/23



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2366

Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts

Was kann ein Roman, was das Internet nicht kann? - Er kann von einem analogen Standpunkt aus die digitale Welt „verorten“.

Markus Köhle hat die Fähigkeit, Literaturtheorie als Unterhaltung auszugeben, indem er große Thesen auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft. Und er scheut sich auch nicht, die sogenannte Tagesverfassung als größtes denkbares Korrektiv für alle kulturellen Unternehmungen anzusprechen. Für die beiden Schlüsselbegriffe Unterhaltung und Tagesverfassung gibt es keinen besseren Nährboden als den Poetry Slam. Diesen hat er quasi im Alleingang in Österreich eingeführt und hält ihn durch permanentes Nachjustieren auch nach zwanzig Jahren noch ajour.

Die Elemente „mündlich“, mobil, Tagesverfassung, irritative Assoziation, Abschweifung, Durchstreifung bilden daher das tragende Gerüst für einen Roman, den man am Begriff Roadmovie angelehnt als ÖBB-Movie, Railjet-Saga oder auf Qualtingerisch Bundesbahnblues nennen könnte.

Der Held Lukas sitzt neun Kapitel lang (alle Neune) in irgendeinem Zug und empfängt auf jeder Tour neue Sitznachbarn, die ihm mit Welt- und Allerweltsgeschichten die Bude im Hirn einrennen. Denn eigentlich arbeitet er als Texter am großen Projekt Lexikon verrückter Österreich-Orte, und da ist er ausgebucht, denn jeder Ort wird verrückt, sobald man über ihn nachzudenken beginnt. Ein Auszug dieser „Verwortung Österreichs“ ist im Anhang angeheftet und stellt eine Art „Ösi-Pedia“ dar, denn die Orte sind ordentlich mit Sub-Kultur, Ironie, Vertuschungsstrategie und purer Illumination beim Genuss des Lebens unterlegt.

Der Kern-Roman unter zwei Schaubildern griffig subsumiert. Wie bei Karl-May-Abenteuern sind auf der vorderen Karte neun Reiserouten im Railjet skizziert, sodass eine Art Rail-Netz über Österreich gelegt ist, mit seltsamen Endstationen. Pöls in der Steirmark etwa oder Virgen in der Venedigergruppe.

Auf der hinteren Landkarte ist nichts zu sehen, Österreich als weißer Fleck, wie wir ihn gerne über Schmach, Geschichte und Staatsverfehlungen legen wollen, wenn wir ein Sonntagsgefühl brauchen. Aber dann tun sich klein die zehn Höhepunkte Österreichs hervor, die zehn höchsten Berge Österreichs sind nämlich vom Weltraum aus gesehen nur zehn kleine Einstiche auf dem Display.

Der Held Lukas ist vor Jahren aus Nassereith ausgewandert und lebt als Sprachanwender zwischen den Kulturen und Literaturen, die er regelmäßig mit Forschungsstipendien und Projektreisen besucht. Dabei läuft nicht immer alles rund, in Tiflis beispielsweise kommt er kaum aus dem Hotel hinaus, weil das Wetter so mies ist, das können auch die ausgesprochen schönen Schriftzeichen des Georgischen nicht ungeschehen machen. Der größte Nutzen solcher Reisen besteht freilich darin, dass man immer genug Stoff zum Reden hat, wenn sich im Speisewagen jemand an den Tisch setzt. Von Georgien soll man unbedingt mitnehmen, dass dort die Wasserläufe seitenverkehrt angeschlossen sind, also das Warme kommt rechts.

Der Railjet erweist sich als geduldiges Speichermedium für Gespräche, er ist Teil der großen Vernetzung und vergisst ähnlich dem Internet nichts. Wenn man eine Garnitur besteigt, besteigt man einen großen Konzertsaal, in dessen Kulturgewölbe die Gespräche als kleine Musikstücke von der Decke hängen.

Je länger die Reisen dauern, umso vertrauter werden die Sprechenden, sodass sie mit der Zeit sogar Intimes und Dörfliches zu erzählen wagen. Zudem kommt der Aha-Effekt, dass es sich letztlich um Stammgäste handelt, die immer wieder im Speisewagen auftauchen und oft das Gespräch dort fortsetzen, wo sie es bei der letzten Tour abgebrochen haben.

In Abenteuerromanen taucht oft die Fügung auf, dass sich das Netz zusammenzieht, manchmal wird auch eine Schlinge daraus, die sich um den Hals legt.

Lukas ergeht es ähnlich, je mehr er in der Sprachwelt unterwegs ist, umso mehr zieht es in letztlich in sein Heimatdorf Nassereith, das ihn mit allen Tricks zu einem Heimatbesuch animiert. Ihm wird der sogenannte Kranewitter-Preis versprochen, wenn er ein kleines Stück schreibt, das den Marktflecken als kulturell wertvollen Stützpunkt ausweist. Franz Kranewitter, muss man wissen, ist ein seltenes Dichter-Beispiel, das über das Tiroler Dorf hinausgewirkt hat. Mittlerweile machen alle im Theater, die aus dem Dorf hinauswollen, auf Kranewitter und dessen Stück die sieben Todsünden.

Lukas wird auf den letzten Reisen immer stiller, die Heimat steht bevor. Längst schon ist die Kindheit gut erzählbar aus seiner Erinnerung hochgestiegen, und er glüht vor Abenteuern, wie sie nur einst haben geschehen können, als die Idylle noch nicht stillgelegt war. Das moderne Dorf unterscheidet sich von nichts von der Welt, alles ist Internet, das nichts vergisst. (204)

Der Showdown verläuft knapp an der Blamage vorbei. Als Lukas den vollen Gemeindesaal sieht, in welchem er geehrt und gefeiert werden soll, setzt wie einst in der Kindheit erbarmungsloses Nasenbluten ein. Von der Erinnerung blutig geschlagen betritt er dann die Bühne, und alles wird gut. Er erzählt nämlich, wie die sieben Todsünden den modernen Literaturbetrieb kaputt machen.

Markus Köhles Roman „Das Dorf ist wie das Internet“ ist ein ironischer Thesenroman über den Literaturbetrieb, ein Heimkehrer-Roman eines ausgewanderten Dorfkindes, eine Studie zur kulturellen Globalisierung, worin es Ortsschilder nur mehr in der Erinnerung gibt.

Gleichzeitig ist der Roman eine analoge Andockstation, die jenen Dingen Raum, Zeit und Schwerkraft gibt, die sonst hemmungslos digital durch das Netz schwirren.

Für sogenannte Tirol-patriotische Leser tut sich mit dem Motiv des Dorfheimkehrers eine Brücke auf zu Norbert Gstrein (Vier Tage, drei Nächte), dessen Held ins väterliche Hotel im Ötztal zurückfindet, und zu Robert Prosser (Verschwinden in Lawinen), der nach ausführlichen Kaukasus-Reisen in Alpbach nachschaut, was der Fremdenverkehr inzwischen mit seinem Kindheitsdorf gemacht hat.

Im Anhang sind allerhand Übungen vorgeschlagen, wie man mit Österreich umgehen soll, falls es einem gelingt, das Dorf zu verlassen.

Österreich ist ein Topfen | Österreich ist Bratfett | Österreich ist eine Extrawurst. Das Dorf als Geschmack aus der Kindheit vergisst ebenfalls nichts.


Markus Köhle: Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts. Roman.

Wien: Sonderzahl 2023. 247 Seiten. EUR 25,-. ISBN 978-3-85449-617-5.

Markus Köhle, geb. 1975 in Nassereith, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 25/05/23



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2364

Auch Kannibalen essen mit Besteck

Da bleibt uns noch ausreichend Zeit. Zeit wofür? Finden wir es heraus.“ (55) Dieser Kurzdialog, den der fiktive Joseph Roth mit seiner Frau Friederike führt, stellt in kürzestmöglicher Form den Sinn des Lesens dar.

Martin Kolozs gilt mittlerweile als Fachmann für biographische Lebensspitzen. Nach seiner Theorie und Praxis zeigt sich das Besondere eines Lebens nicht nur in den großen Taten und Ideen, die jemanden vielleicht bekannt gemacht haben, sondern vor allem in der Trivialität, mit der der Alltag beinahe unbemerkt vom Helden durchpflügt werden muss.

Der Kaiser-Melancholiker Joseph Roth ist in der Literaturgeschichte längst episch untersucht, sein Werk über ihn ist mindestens so groß wie das von ihm, zumal er ja in den Sektoren Geschichtsroman und Journalismus als eine „Einmaligkeit“ gilt. Über diesen Autor noch etwas zu schreiben, hat nur einen Sinn, wenn man durch ein frisch geschlagenes Fenster in seine Welt hineinblickt.

Martin Kolozs wählt den Account eines gereiften Lesers, um diesem einen kleinen Bericht über Joseph Roth, den Journalismus, die Justiz, die Zwischenkriegszeit und generell über das Abenteuer der Lektüre aufzuspielen. Ganz im Sinn klassischen Erzählens verbraucht die Lektüre die Zeit eines brachliegenden Abends, der mit einer unerhörten Begebenheit lustvoll verbracht werden kann. Der Bericht ist ordnungsgemäß in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der zu Beginn der Herausgeber Ort und Zeit einer kriminaltechnischen Nachuntersuchung eines Justizirrtums vorstellt. Am Schluss erzählt der Herausgeber, wie der Fall abermals Wirbel geschlagen hat, aber schließlich wie alle Literatur gesittet im Archiv verschwunden ist.

Wir Leser dieses einen Abends haben also die Chance, einen Kriminalfall kurz dem Vergessen zu entreißen, jäh mitzufiebern im Schmerz, der einem unschuldig Verurteilten zugefügt worden ist, um am Schluss festzustellen, dass der Fall jetzt wieder heruntergefahren im Regal verschwinden kann, so wie es einst mit unserem Leben geschehen wird, wenn es gut ausgelöscht in irgend einem Archiv künstlicher Intelligenz verschimmeln wird bis zum Armageddon der kompletten Datenvernichtung.

In der sogenannten Kern-Story wird Joseph Roth als Ich-Erzähler von einem auf Bewährung freigelassenen Mörder in eine Kleinstadt in der Nähe des schlesischen Breslau eingeladen, sich als Journalist den Fall anzusehen und eine Wiedergutmachung zu bewirken. Denn der Verurteilte sei unschuldig. Wir erleben die Recherche aus der Ich-Perspektive, die keine Gewähr für Objektivität gibt. Tatsächlich besucht der Erzähler den Fleischhacker Eduard Trautmann, der sein Leben an der Peripherie mit Korbflechten verbringt.

Roth lässt sich die Unterlagen zeigen und verspricht, mit den involvierten Justizpersonen Kontakt aufzunehmen. Offensichtlich ist Trautmann wegen Ermordung und Zerstückelung einer Frau verurteilt worden, weil die Leiche fachmännisch zerlegt worden ist wie von einem Metzger. Es könnte also eine Art Sippenhaftung eines Berufsstandes vorliegen.

In der Folge müssen die Termine mit dem Landrat und den Kriminalleuten verschoben werden, weil das erzählende Ich zu viel ins Glas geschaut hat. Hier ist große Erzählkunst gefragt, um das Rothsche Bewusstsein zwischen Trinken und darüber Reflektieren in Balance zu halten. Für die Justiz und ihr Fehlurteil hingegen passt alles: „Trautmann ist schuldig wie die Sünde selbst.“ (42)

Recherchen ermöglichen es, ins Milieu von trinkenden Außenseitern vordringen, was die journalistische Seele gerne annimmt. Bei dieser Gelegenheit zeigen sich oft zwielichtige Helfer, die sich unter die Prostituierten und Landstreicher mischen, um sich ihre beratenden Dienste sexuell abgelten lassen. Bemerkenswert ist der Begriff „Rentnermark“, diese soll die Inflation zumindest durch Wording bekämpfen.

Jemand aus dieser Szene könnte der wahre Täter sein, nimmt der Erzähler einmal als Hypothese an und erklärt seine Suche nach jemandem, der unauffällig sein Handwerk ausübt. „Wir suchen also einen Kannibalen, der mit dem Besteck isst und unauffällig bleibt.“ (78)

Als in Berlin ein Serienmörder auftritt, der ähnlich vorgeht, wie es Trautmann zugeschrieben worden ist, riskiert der erzählende Roth einen Bericht für die Zeitung, dass vielleicht bei Trautmann ein Fehlurteil vorliege.

Aber es ist nur ein Bauchgefühl, muss der Journalist Roth zugeben, als er den Text dem Chefredakteur zeigt. Wenn die Justiz einmal alles richtig gemacht hat und ein Urteil gefällt hat, muss sich jedes Gefühl diesem Richterspruch beugen.

Roth nimmt seine Frau mit auf einen Weihnachtsausflug hinter Breslau und übergibt dem Trautmann die Papiere. Er hat nichts tun können.

Erst später wird der Fall von Amtswegen neu aufgerollt, und mit gutem Ende dem Archiv zugeführt. Juristisch ist jetzt alles in Ordnung, die Beteiligten sind längst verstorben, der Akt ist vollkommen unter seiner Staubschicht.

Als Leser schließt man die Lektüre dieses kleinen Berichts, der alles hat, was man für einen nachdenklichen Abend gebrauchen kann. Einen Plot wie aus der Zeitung, einen großen Akteur aus der Literaturgeschichte unterwegs in kleiner Versager-Mission, einen raffinierten Erzähler Martin Kolozs, der sich so elegant zurückhält, dass man wie im Märchen mit den Fingerspitzen am Relief-Cover tasten muss, um seinen Namen zu erfahren. Es sind letztlich die Gefühle, die einen Fall lesbar machen.


Martin Kolozs: Auch Kannibalen essen mit Besteck. Oder Wie der Schriftteller Joseph Roth den Fall des Fleischhauers Eduard Trautmann aufklärte. Ein Bericht.

Wien: Text/Rahmen 2023. 104 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-903365-14-8.

Martin Kolozs, geb. 1978 in Graz, aufgewachsen in Innsbruck, lebt in Wien.

Joseph Roth, geb.1894 in Brody, starb 1939 in Paris.

Helmuth Schönauer 20/05/23



GEGENWARTSLITERATUR 3182

Berlin & Paris

Bücher über musikalische Genies sollen sich wie eine bunte Gitarre anfühlen, wenn man sie liest.

Kurt Leutgeb befolgt mit seinem Roman „Berlin & Paris“ diesen sinnlichen Rat aus dem Untergrund auf das genaueste. Sein Roman sticht knallig als die Yellow-Submarine aus dem Pop-Regal hervor, und wer dann noch die Chance bekommt, das Cover in voller Entfaltung zu sehen, wird jäh von einem Sog erfasst, der den Blick stracks ins Innere des Buches lockt. Ein kultiger Roman verlangt von der Leserschaft kultiges Annähern und Vorgehen!

Auf dem Frontcover steht die Kürzestangabe zum Roman: Um sich zu regenerieren gehen in den 1970ern David Bowie nach Berlin und Jim Morrison nach Paris. Als sich auf einem französischen Schloss die Wege kreuzen, verändert sich ihr Leben.

Der Roman ist im Hardcover von US-Literatur ausgeführt, dieser Griff über das überstehende Cover hinein in den soften Buchblock knüpft an alle Bücher an, die man sich als Leser aus den USA oder Großbritannien im Laufe des Lebens hat schicken lassen.

Dieses Signal verweist auf den Kosmos, in den sich „Berlin & Paris“ hineinwagt: Es geht um eine Kulturgeschichte aus Versatz- und Querstücken, die anhand neuer Biographien jene Poesie ansprechen, die bei der Rezeption von Pop entsteht.

Bowie und Morrison sind Träger einer weit ausladenden Pop-Kultur, worin die Kernelemente Musik, Eros, Sex, Drogen und Tod die Fixpunkte sind, um die sich alles dreht. Wer sich als Publikum im Selbstversuch Drogen nicht leisten kann, aus dem aktiven Sexleben ausgeschlossen und vom eintönigen Alltag angewidert ist, träumt sich über die Musik in Heldenbiographien hinein, die eine eigene Wirklichkeit schaffen.

Der Autor Kurt Leutgeb hält sich an alles, was an Sekundärliteratur, Interviews und Plattencovers über die beiden Helden gesichert ist. Auch die zeitgeschichtlichen Elemente sind historisch abgesichert und erzeugen vor allem im ersten Teil einen wahrhaftigen Sound, wobei die einzelnen Beobachtungen sehr straff und realistisch angerissen werden wie unverwechselbare Sound-Riffs.

Wie jede Heldenbiographie unterliegt auch der Mythos von Popikonen dem Dreischritt: Aufbau, Klimax, Tod und Verfestigung.

David Bowie ist durch Kokain aus der Bahn geworfen und stellt verblüfft fest, dass man zwar jeden im Auftritt-Tross feuern kann, nicht aber die Ehefrau und den kleinen Sohn. Eine Auszeit müsste an einem Ort geschehen, der für einen Mythos tauglich ist. Berlin als schizophrene Stadt zwischen den zwei Systemen des kalten Krieges könnte hilfreich sein.

Jim Morrison hingegen ist auf der Flucht vor Strafverfolgung und Gefängnis, seit es bei seinen Tourneen zu Tumulten und Rechtsbrüchen gekommen ist. Für ihn bietet sich Paris an, wo er den Mythos von Boheme und Poesie ausbauen könnte.

In zehn Kapitel schält der Roman die Helden aus ihren Kokons, in die sie sich verpuppt haben. Zuerst rasen sie im Gegenschnitt aufeinander zu, ehe sie in einem französischen Schloss aufeinandertreffen. Es geht darum, die poetischen Strategien auszutauschen und gleichzeitig auch die Geschlechtspartnerinnen kreuzweise zu wechseln, die ja ein Teil des Kulturkonzepts sind. Könnte man einen gemeinsamen Song aufnehmen? Könnte man Sexpartnerinnen teilen?

Während die Helden in der Dramaturgie von Workshops ihre Theorien zu Musik, Literatur und Showbusiness austauschen und anhand von sexuellen Long-Runs überprüfen, gehen die Anwälte ihren Geschäften nach und versuchen, die jeweiligen Karrieren wenigstens finanziell zu retten.

Gegen Mitte des Romans ist die Verschränkung der beiden Helden so heftig, dass alle den Überblick verlieren.

Wer will sich nun scheiden lassen, wer ist impotent, wer hat einen Hitler-Song geschrieben, den niemand aufzuführen wagt, wer fühlt sich als Musiker missverstanden, wer ist nun von den Doors hinausgeworfen worden?

Bei der Klärung dieser Fragen kommt es zu einer existenziellen Mutation. Die beiden Karrieren werden vom Autor, von der Fangemeinde, ja sogar von der Geschichtsschreibung probehalber vertauscht, sodass David Bowie müde wie ein Hund in Paris stirbt, und Jim Morrison noch eine anständige Weile weiterlebt und Karriere macht, nachdem er in Berlin frische Kraft geschöpft hat.

Diese neuen Biographien sind genauso logisch wie die sogenannten echten. Beim Mythos handelt es sich nämlich um menschliches Machwerk, das eine Geschäftsidee unterstützt.

Die beiden neu erzählten Lebensentwürfe enden mit höchst blumigen Zeilen eines nicht geschriebenen Songs: „Der Tod schreibt weiß / das Glück schreibt bunt.“

Berlin & Paris“ spielt mit den Ingredienzen zu Kulten, wenn nicht gar Ideologien. Kurt Leutgeb schüttet noch einmal alles aus, was die Leser vielleicht in den 1970ern selbst als Fans erlebt haben, und setzt es neu zusammen. So bietet er dem mittlerweile oft schon stark gealterten Publikum die Möglichkeit, die Farben von damals neu aufzurufen und unter einem Alterslicht zu ordnen. Die beiden Städte als Handlungsträger, die beiden Ikonen Bowie und Morrison, Sex und Drugs als die beiden Hauptmotive für ein wildes Leben: sie alle werden durch kalte Erzählweise eines vorgeblichen Chronisten noch einmal heiß gemacht, ehe wir Leser den „gelben Roman“ beiseite legen wie eine Gitarre. Erschöpft, bunt und weiß.


Kurt Leutgeb: Berlin & Paris. Roman.

Klagenfurt: Sisyphus 2023. 279 Seiten. EUR 23,-. ISBN 978-3-903125-74-2.

Kurt Leutgeb, geb. 1970 in Steyr, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 15/04/23



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2365

Engstelle

Im Blutkreislauf löst die Engstelle einen mehr oder weniger raschen Eingriff aus, um den bedrohlichen Blutstau abzuwehren, in Verkehrssystemen sind die Engstellen die wahren Maßstäbe für Kapazität. Im Denken freilich gilt die Engstelle als etwas Edles, das es anzusteuern gilt. An den Engstellen nämlich steigen Gedanken am liebsten ab und beginnen sofort zu diskutieren.

Martin Maier stellt unter dem lapidaren Titel „Engstelle“ ein Buch vor, das im Ganzen als Engstelle einer Epoche gelesen werden kann. Macht man sich an die Einzelteile heran, so wird man etwa fünfzigmal zu höchster Konzentration gezwungen, die einzelnen Engstellen stechen als verdichtete Gedankenkapsel hervor, die bei Lektüre jeweils eine gesamte Geschichte auslösen.

Die sogenannten Denkkapseln erzählen mit zwei, drei Sätzen einen Sachverhalt, der zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte öffentlich aufgeblitzt ist und beim sogenannten Reflektor einen Gedankenblitz ausgelöst hat.

Seit seiner ersten Modelleisenbahn war die einzige Konstante der Wind gewesen. Wie gewonnen, so zerronnen. Daran hatte sich nichts geändert.“ (13) Der Fluss der Zeit, die Komponenten Spiel und Wetter sind an und für sich für jede Epoche verwendbar. Durch die umliegenden Textzellen freilich wird die Spielfläche konkretisiert, indem der Held erzählt, dass ihm Fünf-Euro-Scheine als Papierflieger davongeblasen werden, sobald er die Geldtasche öffnet. Aber auch die alten Scheine haben sich öfters in Papierflieger verwandelt. Allmählich wird die Geschichte kompakt. Der Held hat offensichtlich mehrere Währungen erlebt und das Geld an jenen Wind verloren, der ihn einst beim Spiel mit der Modelleisenbahn begleitet hat.

Als hohe Verdichtungskunst gelten in der der Literatur die Beispiele des „Er-Kosmos“ von Franz Kafka und die „Keuner-Geschichten“ von Bert Brecht. In beiden Fällen wird ein trivialer Sachverhalt jeweils zu einem Lehrbeispiel für die aktuelle Gegenwart ausgeschmückt, die sogenannte Moral dieser Geschichten gilt jeweils nur für jenen Augenblick, in dem sie erzählt wird.

Ähnliches tut sich bei der „Engstelle“, wo ja auch Szenen für einen Augenblick zeitlose Gültigkeit entwickeln, aber schon beim Umblättern zum nächsten Sachverhalt eingeschränkt und ausgeweitet, kurz: relativiert werden.

Dieser Er-Standpunkt erweist sich als eigedampfte Erzählsituation, von der jede Person zu jeder Zeit betroffen sein kann. Was als höchste Intimität angelegt ist, wird gleichzeitig zur höchsten Form der Generalisierung. In diesem Wechselspiel agieren die einzelnen Gedanken wie Magnetfelder in einem Satzbogen und stoßen sich ab und ziehen sich an.

Oft sind die „Geschichten“ groteske Auswüchse einer logischen Kette, die an ihrer schrägsten Stelle gerissen ist.

Ein Mülldieb geht um, ist unkonzentriert, sodass er eines Tages die Tonne klaut, statt des Mülls. An der Tankstelle räsonieren Tankwart und Kundin darüber, wieso ihre Wohnungen jetzt fremdgeheizt würden. Ein Lehrer vergleicht die Pädagogik mit einem Hackstock, an dem Scheite gespalten werden. Manchmal ist auch eine sogenannte Kopfnuss dabei.

Die Lage entgleist zwischendurch, wenn ein Wort zu wörtlich genommen wird. Ein Amokschütze passt mit dem Lauf der Waffe nicht auf und schon nimmt alles seinen Lauf. (67) Ohne jeglichen Grund wird dem Helden ein Schreiben zugestellt mit der Meldung, dass es keine Besoldungsrechtlichen Konsequenzen gibt. Gemeint ist vermutlich, dass es überhaupt kein Geld gibt. (87)

Regelmäßig poppt die Frage auf, ob an der einen oder anderen Engstelle nicht gerade etwas unverwechselbar Einmaliges verhandelt würde. Abermals zeigt das Umblättern im Gedankenstrom, dass auch die Engstellen austauschbar sind, so sehr sie sich auch als Solitäre geben.

Beruhigung schafft die Gelassenheit über die Austauschbarkeit jeglicher Zeit. „Wenn heute das Früher von morgen ist, war früher wohl alles schlechter. Er lehnte sich zurück und ließ den Dingen ihren Lauf.“ (89)

Das Geheimnis liegt vielleicht in der Universalität der Einmaligkeit. Während der Lektüre verklumpen Held, Text und Leser zu einer Engstelle, aber schon im nächsten Leseschritt ist wieder alles offen und weit, man muss die nächste Engstelle suchen, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Natürlich ist ein sorgfältiges Maß an Ernst und Gedankendisziplin vonnöten, um den Tiefgang der Texte halbwegs auszuloten, aber manchmal ist einfach Humor angesagt, wenn etwa jemand empfiehlt, den Stoffwechsel abzuschaffen, dann wären alle Probleme erledigt. Das denkt sich insbesondere der Prinz auf der Erbse, der sich als Eisenbieger gerade an einem Stück Stange abarbeitet.


Martin Maier: Engstelle.

St. Wolfgang: edition art science 2023. 97 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-903335-28-8.

Martin Maier, geb. 1962 in Schwaz, lebt in Innsbruck.

Helmuth Schönauer 22/05/23



GEGENWARTSLITERATUR 3184

Böse ist gut

Wann ist ein Text wirklich gut? Wenn man es in der Lesehaut nicht mehr aushält und die nächstbeste Person anrufen und treffen muss, um darüber zu reden.

Boris Schumatsky führt in seinem Essay „Böse ist gut“ seine eigenen Recherchen als Journalist im ersten Tschetschenienkrieg mit den grotesken Ausschweifungen seiner Helden aus dem Roman „Die Trotzigen“ (2016) zusammen. Was entsteht, ist ein Pandämonium purer Gewalt.

Böse ist gut“ liefert nicht nur eine brutale Erklärung über den Überfall Russlands auf die Ukraine, der Essay zeigt auch, dass manche Erkenntnisse nur durch Literatur vermittelt werden können.

Mittlerweile laufen alle Genres auf Hochtouren, um diese Zeitenwende zu beschreiben, die im Februar 2022 durch den Putinschen Überfall ausgelöst worden ist. Dem Genre Essay kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, weil er kraft seiner Erkenntnismobilität durchaus den Focus seiner Ausleuchtung verändern kann und somit stets scharfe Bilder liefert.

Das Besondere im Falle von „Böse ist gut“ ist der Blickwinkel des Ich-Erzählers. Das Schlüsselerlebnis des Beschreibenden ist ein Massengrab in Grosny, wo dem filmenden Journalisten klar wird, dass es sich hier nicht um einen Konflikt im Sinne von geopolitischen Auseinandersetzungen handelt, sondern um sichtbare Auswüchse eines unsichtbaren Gewaltsystems. Vom Präsidenten abwärts huldigt die russische Gesellschaft täglich Unterwerfungsritualen, wie wir sie aus schlechten Narko-Filmen Südamerikas kennen.

- Der Schüler muss in der Pause zum nächstbesten Mitschüler gehen, und ihn unterwerfen, tut er es nicht, wird er selbst zum Opfer, wo immer er auch in Zukunft auftreten wird.

- Die Sorge des Erzählers, als er zur Armee eingezogen wird, ist nicht der Einsatz im Krieg, sondern dass er den normalen Kasernenbetrieb nicht überleben würde.

- Die Familie schließlich ist landesweit geprägt von zynischer Duldung der Gewalt. Als eine vom Mann geschlagene Frau auf der Polizeistation das Verbrechen anzeigen will, wird sie aufgefordert, wiederzukommen, wenn sie tot ist.

Nicht umsonst fasst Putin am Vorabend der Invasion diese russische Universalstimmung mit einem Volkslied zusammen, indem er die zwei letzten Zeilen dieses russischen Volksreims an die Ukraine richtet: „Meine Liebste liegt im Sarg, / ich mach mich an sie ran, ich fick sie. / Ob’s dir Spaß macht oder nicht, / Füg’ dich, meine Schöne.“

Boris Schumatsky beschreibt diese „Unterwerfungskultur“ aus der Sicht eines Individuums, das erkannt hat, dass es nur einen Ausweg gibt: Nämlich sich dem Anpöbler zu stellen! Erst wenn dieser kapiert, dass man nicht klein beigibt, sondern vielmehr keine Angst vor Schmerzen, ja sogar dem Tod hat, zieht der Aggressor weiter.

Aus dieser Erzählhaltung heraus folgt ein eindringlicher Appell an die sogenannten Friedensdemonstranten, das sogenannte wohlwollende Verstehen des Aggressors zu relativieren. Genau jene, die jetzt mit der Friedenstaube in der Hand auf öffentlichen Plätzen stehen, werden demnächst in einer öffentlichen Grube wie in Grosny liegen, wenn sie sich weiterhin „demonstrativ unterwerfen“.

Schon kleinen Kindern wird im gewalttätigen Russland beigebracht, beim Spielen „so richtig böse zu sein“. Diese Kultur ist durchtränkt von Faschismus, Gewalt und Konnotationen zum Bandenkrieg. Die Musik in den Taxis ist Gangsta-Musik, jedes Armaturenbrett ist zudem mit einer Dashcam ausgestattet, bei Verkehrsunfällen gibt es nämlich keine Zeugen, nur Schmiergeld und geheime Aufzeichnungen.

Boris Schumatsky stellt seinen Essay gratis online zur Verfügung, es ist purer Gangsta-Text, der sich hier ungeschminkt zeigt. Wer ein wenig mehr „literarische Verbrämung“ braucht, sei auf seinen Roman „Die Trotzigen“ (2016) verwiesen. Darin versuchen die Helden jener Generation, die zwischen dem Verblassen der Sowjetunion und dem aufkeimenden Würgegriff Putins eingekeilt ist, das Leben zu meistern, indem sie sich grotesk-maniriert benehmen. Aber das System ist mindestens so vif wie die Trotzigen, sodass diesen letztlich nichts anderes übrigbleibt, als auszuwandern.

Literatur in den Händen eines Aufklärers wie Boris Schumatsky einer ist, vermag die Herzen der Lesenden zumindest so aufzuwühlen, dass sie den nächstbesten Literaturmenschen anrufen, um mit ihm darüber zu reden.


Boris Schumatsky: Böse ist gut. Essay.

Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 11. März 2023.

online: https://www.schumatsky.de/das-russische-der-gewalt/


Boris Schumatsky: Die Trotzigen. Roman.

Berlin: Blumenbar 2016. 384 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-351-05029-0.

Boris Schumatsky, geb. 1965 in Moskau, lebt in Berlin.

Helmuth Schönauer 08/05/23



TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2361

Körpersprache gendert nicht

Wie weit darf ich als Mann im Bus die Beine spreizen, ehe ich von Mitfahrenden wegen sexueller Belästigung angezeigt werde? Diese Frage ist nicht so sehr wegen des Inhalts bemerkenswert, sondern wegen der Überlegung, wer sie beantworten könnte.

Stefan Verra ist die erste Adresse, wenn es um Kunst, Kommunikation und politische Strategie rund um den Körper geht. Die sogenannte „Körpersprache“ ist nämlich älter als die gesprochenen Sprachen, daher ist sie mehr oder weniger überall verständlich, noch ehe jemand den Mund aufgemacht hat.

Der Körpersprachen-Autor ist weit mehr als ein bloßer Berater oder Coach, der öffentliche Anliegen oder Personen betreut. Die vorgestellten Überlegungen probiert er stets am eigenen Körper aus, sodass sein Tun teilweise dem eines Schau-Künstlers entspricht, der mit dem Stilmittel Körperhaltung die diversen Botschaften unterlegt.

Neben dem künstlerischen Aspekt sollte man den öffentlichen, wenn nicht gar politischen Charakter seiner Überlegungen hervorheben. Seine Kunst wird ja zwischendurch selbst zur Hauptaussage jener Personen, die sich von ihm Tipps geben lassen.

Und drittens ist Stefan Verra ein Unterhaltungskünstler. Wenn man ihn bucht, hat man auf jeden Fall fröhliche Stunden in Aussicht, egal wie heftig das vorgestellte Programm anschließend vom Publikum angewendet wird.

Zur Unterhaltungskraft gehört auch der Hinweis auf die exzellente mündliche Sprachführung des Autors, der dem Mundartgebiet des „Osttirolerischen“ entstammt, das nicht gerade als Reservat für gute Redner gilt.

Die Verra-Bücher lassen sich am ehesten mit gedruckten Kabarettprogrammen vergleichen, sie machen Lust auf ein Bildungshappening und ermöglichen gerade durch die didaktischen Lehrbilder eine Art Vorglühen in Sachen Körpersprache.

Der erste Absatz ist als literarischer Taser angelegt: In Bachelor-Methode wird nämlich ein Satz durchgegendert, erst dann kommt die Vernunft zum Zug. Obwohl die Sprache natürlich auf die Thematik Geschlecht eingehen soll, ist der Umgang im schriftlichen Gebrauch noch nicht so weit, dass er ein durchgegendertes Textbild vertrüge. Das Lektürepublikum ist nämlich nicht auf Sternchen hin ausgebildet, und man kann nicht zwei Sachen gleichzeitig machen: Lesen lernen mit Sternchen und Lesen über Körpersprache. Daher ist das Buch ohne Gender-Sonderzeichen geschrieben.

Im Schlusskapitel wird diese These zur Hauptaussage ausgepackt. „Man soll sich nie mehr als einen Rucksack umschnallen!“ Auf das Thema bezogen heißt es, entweder du genderst einen Text, um zu zeigen, was alles gegendert werden kann (die meisten Arbeiten an der Uni halten sich an dieses Diktum), oder du vermittelst einen Inhalt.

Für die Körpersprache bedeutet der Rucksack: Entweder du nimmst jenen, der für die Anmache entwickelt ist, oder jenen für die Arbeitswelt. Mischen geht garantiert schief.

Der dramaturgische Verlauf des Programms hält sich an Überlegungen wie:

- Gibt es überhaupt Unterschiede der Körpersprache zwischen den Geschlechtern?

- Warum geht es versteckt immer um Anmache und Fortpflanzung?

- Welchen Grundprinzipien folgen männlich und weiblich in Bezug auf Körpersprache?

Die unterhaltsamen Fallbeispiele berichten von einer Bar zu Zeiten der Neandertaler, wo wenig Zeit ist, sich mit Paarungsvorbereitungen herumzuschlagen. Die Körpersignale dienen der Beschleunigung des Vorgangs, so dass dieser womöglich noch am gleichen Tag abgeschlossen werden kann.

Als Gutachter bei Gericht hat der Autor Einblicke in die diversen Verrenkungen und Körperübungen, welche das Justizpersonal an sich verrichtet, ehe es in den neutralen Talar schlüpft.

Eine Geräuschprobe aus dem Fitnessraum zeigt die Präferenzen der Geschlechter: Während Männer grundsätzlich grunzen, wenn sie eine Hantel sehen, verfallen Frauen in einen hohen Ton, der als „Achtung, herschauen!“ gedeutet werden kann.

Problematisch wird es mit der Körpersprache meist im Bereich der Arbeitswelt, wenn die Anbahnungs- und Achtungssignale vermischt werden.

Für die saubere Trennung dieser beiden aufreizenden Lebenswelten wird Viktor Frankl zitiert: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die Macht unserer Wahl.“ (107) Schon bei den Neandertalern gehorcht dieser Raum der Überlegung: „Er wirbt, sie entscheidet.“ (51)

Die Praktikabilität dieser Strategien wird mit einer Unmenge an Beobachtungen verdeutlicht. Man beachte, wie sich Männer und Frauen einen Pullover ausziehen, wie Silberrücken einen Grillabend veranstalten, um letztlich zu zeigen, dass sie allein sein wollen. Wie Männer die Mimik von Filmhelden nachahmen, ohne zu bedenken, dass man selbst immer der einzige im Raum ist, der die eigene Mimik nicht sieht. Wie Frauen ein Täschchen tragen, hat Auswirkungen auf ihre Haltung, wenn sie auf den Tisch hauen.

Die Schaubilder zeigen es: Hier wird sauber vorgeführt, was jeder von uns unreflektiert schon ein Leben lang macht.

Hinter diesen Schaubilder steckt auch die heftige Botschaft des Autors: Trotz aller Digitalisierung und künstlichen Intelligenz sind die Knackpunkte einer Biographie immer noch analog gestaltet: Paarung, Karriere, Einsamkeit, Tod. Wer sein eigenes Leben halbwegs begreifen will, muss es analog in die Hand nehmen. Dazu gehört auch die Reflexion der eigenen Körpersprache.

Manche Erkenntnisse sind so logisch, dass man fast erschrickt, wie einfach sie formuliert sind. „Wir nehmen die Menschen analog zuerst in Umrissen wahr, während wir ihnen digital gleich ins Gesicht fahren.“

Die Eingangsfrage vom breit sitzenden Mann beantwortet Stefan Verra beinahe flehentlich: Diese gespreizten Beine sind das Grausigste, was ein Mann verströmen kann. Bitte Männer, klemmt die Beine etwas zusammen, nur so kann eine vernünftige Kommunikation entstehen!


Stefan Verra: Körpersprache gendert nicht. Weibliche und männliche Signale verstehen – und Erfolgsfaktoren gezielt einsetzen. 80 Abbildungen.

München: Ariston 2023. 221 Seiten. EUR 20,60. ISBN 978-3-424-20271-7.

Stefan Verra, geb. 1973 in Lienz, ist einer der gefragtesten Körpersprache-Experten in Europa.

Helmuth Schönauer 24/04/23



GEGENWARTSLITERATUR 3183

Kein Flugzeug am Himmel

Dem Tagebuch ist es egal, was in der Welt draußen passiert, es schreibt sich zwischen den Buchdeckeln von selbst voll.

Die Momentaufnahmen von Irene Wondratsch erstrecken sich wie eine riesige Pinnwand über den Zeitraum von April ‘20 bis Februar ‘22 unter dem seltsam leerfegenden Titel:Kein Flugzeug am Himmel“. Ein leerer Himmel bedeutet Ausnahmezustand, die Leuchtkörper sind aus dem Firmament gefallen, die Witterung ist mehrdeutig, die Blickwinkel Fenster und Mansardenfenster ergeben nur wenig Plastizität für das Nichts.

Die Eintragungen sind chronologisch geordnet, als es zum Jahreswechsel auf 2021 kommt, fällt zuerst die Null aus der Zahl, ehe sich die schreibende Hand an das neue Jahr gewöhnt hat. (57) Wie auf der Pinnwand ergibt sich die Zeitbestimmung dadurch, dass die tieferliegenden Notizen zuerst angesteckt worden sind. Man muss die darüberliegenden Eintragungen beiseiteschieben, ehe man zur Grundschicht vorstößt.

Die Grundschicht ist eine recht vage Botschaft: Etwas Unheimliches ist ausgebrochen und hat die Menschen aus dem öffentlichen Raum verschwinden lassen. Wenn sich noch ein Gesicht bewegt, ist es von einer Maske weggesperrt vom Blick, der es längst aufgegeben hat, jemandem in die Augen zu schauen.

Die Blicke gehen jetzt in den Himmel, wo nichts los ist, hinein in die Gehege des Tiergartens, wo selbst die Tiere irritiert sind von der Verlässlichkeit der Natur, die austreibt, verwelkt und abstirbt wie jedes Jahr.

Ab und zu spricht eine Pressekonferenz zu sich selbst, Botschaften werden in die Haushalte gesendet, es sollen Maßnahmen gesetzt werden, die stumm umzusetzen sind.

An dieser schroffen Erzählhaltung der Welt gegenüber der erzählenden Heldin bewahrheitet sich die alte Weisheit aus pandemischen Tagen: Eine Katastrophe korrespondiert nicht mit den Heldinnen und Helden, diese müssen sich allein einen Reim auf die Zustände machen, indem sie sich verkriechen, absondern und in ein Tagebuch fliehen. Die einen machen Fotos, bis die Speicherkarten voll sind, die anderen pinnen Tageseindrücke auf die Wand, die dritten wechseln ständig die Position, um vielleicht doch noch den entscheidenden Blick auf das all-anwesende Ungemach zu erhaschen.

Die einzelnen Sequenzen überraschen mit jeweils eigenartigen Unterflächen, auf denen das Stativ für eine Kurznotiz aufgebaut ist. Die Erzählerin liegt im Bett, analysiert die Lage, die Stimmung, das Uhrwerk am Handgelenk und steht schließlich auf.

An anderer Stelle setzt die Reflexion bei einem Friseur ein (103), aber beim Umblättern der Notiz steht man plötzlich in der Natur. Der gleiche Atemzug spaltet sich auf in die Innensicht des Salons und die Außenansicht der Botanik. Der Erzählstandpunkt zwischen diesen Wahrnehmungsschüben geht verloren, die Notizen hängen im leeren Raum wie „kein Flugzeug am Himmel“.

Die Einsätze für die Beobachtungen werden immer absurder. Einmal würgt das Ich beim Anblick eines halbvollen Tellers, und würgt und isst, bis die Nahrungsaufnahme (18) abgeschlossen ist wie das Betanken eines Fahrzeugs. Dann heißt es plötzlich „Maschine kaputt“ (28), während die Hand unter Einsatz größter Feinmotorik das Tablettenkontingent für die nächste Zeit in einen Tagesspender einsortiert.

Ich esse mein Gulasch und schaue aus dem Fenster.“ (62) Es sind diese magisch selbst-verlorenen Zeilen, die diese Einträge so zuwendend machen. Helden, die Gulasch essen, kann in der Literatur niemand widerstehen.

Ab und zu ist ein gewisser Jan um die Wege und sagt etwas Bestätigendes, wenn der Erzählerin ein Satz ausgekommen ist. Denn viel gibt es nicht zu reden, wenn die Kommunikation ins Wortlose gerichtet ist, im Badezimmer, beim Blick aus dem Mansardenfenster, beim Anblick der erleuchteten Fenster gegenüber, die suggerieren, dass dort ebenfalls Menschen sitzen und vielleicht in die Ferne schauen.

Im Badezimmer, im Advent. Beides ist ein Anlass für eine Notiz, beides kann mit dem gleichen Wortmaterial bedient und erledigt werden.

Überhaupt muss man die Geschichten als zusammengeschmiedete Kette lesen, deren Glieder austauschbar sind. „Tiergarten – Lainzer Friedhof – Westfriedhof“ (43) ergibt einen recht flüssigen Spaziergang, der im Verlaufe einer Gehstunde ein ganzes Leben abwickeln kann.

Die unheimlichste „Kettenreaktion“ entsteht aus der durchgehenden Lektüre der drei letzten Sequenzen: „Zerstörung - meine Bücher - weite Welt“.

Irene Wondratsch erzählt von einer Welt, in der nichts zusammenpasst, außer dass ein Individuum den Ablauf von Zeit erlebt. Die Heldin ruckelt wie der berühmte Sekundenzeiger durch die Momentaufnahmen, die als Skala für ein Ziffernblatt angeordnet sind. Wenn die eine Runde voll ist, kommt ohne Ruck die nächste. Höchstens die Jahreszahl verändert sich ab und zu. Eine wundersame Buntheit von Leere! Aber nichts ist bedrückend, es ist immer genug zum Nachschauen da.


Irene Wondratsch: Kein Flugzeug am Himmel. Momentaufnahmen.

Klagenfurt: Sisyphus 2023. 166 Seiten. EUR 14,80. ISBN 978-3-903125-76-6.

Irene Wondratsch, geb. 1948 in St. Pölten, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 22/04/23