GEGENWARTSLITERATUR 1196

Kunstlicht

Im Prinzip gibt es nur ein Thema, mit dem man das Publikum langweilen kann: wenn ein Autor über die Krise des Schreibens schreibt! Diese Faustregel eines Buchverlegers im Buch wird in diesem Roman gleich ordentlich widerlegt, wie dieser Roman überhaupt eine einzige Widerlegung von Sein und Schein, Aktion und Prognose, sowie Tat und Erfindung ist.

Der Roman beginnt mit einer epochalen Schreibkrise, der Schriftsteller Otto Vallei kriegt nichts mehr von den Fingern und in die Tastatur. Diese tragödienhafte Situation der Literatur mündet auch in den ersten Satz, der durchaus auch den Duktus eines berühmten Klassikers für Anfangssätze in sich trägt: "Nachdem sich Otto Vallei sechs Monate in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hatte, um an einem Roman zu arbeiten, beichtete er seiner Frau Karin, daß er kaum Fortschritte gemacht habe." (11)

Tatsächlich beendet Autor Otto auch formal seine Tätigkeit, legt beim Verlag seine Schreibinsignien nieder und widmet sich dem "Kunstlicht", wie ein Radiosender zwischen Kunst und Dämmerlicht genannt wird.

Beim Kunstlicht wird die wahre Kunst gemacht, flächige Happen werden vor dem Mikrophon sendefertig geräuchert, Trash und Schas bestimmen den Hintergrund, und im Off ist alles trendig und fetzig. Die unerträglich Leichtigkeit des Hörens ist offensichtlich ausgebrochen. Wir erleben als Leser einen Querschnitt durch die Literatur- und Kulturszene Amsterdams, sogenannte hervorragende Figuren tun sich letztlich durch ihre Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit hervor.

Das Gastspiel beim Kunstlicht ist jäh beendet, als ein Roman auftaucht, in dem ein Schriftsteller wegen seiner Schreibblockade zu einem Sender namens Kunstradio geht und diesen als Scheiße empfindet.

Otto Vallei erlebt nun das tolle Gefühl, fleischgewordener Hauptdarsteller eines geklonten Eigenschicksals zu sein. Alles, was im Roman steht, erfüllt sich an ihm selbst, ob es nun um Seitensprünge, Kündigung oder gar um eine waschechte Bombendrohung geht.

Die Grenzen der Literatur sind überschritten und sogenannte "echte Realität" geworden.

Als Leser ist man ja üblicherweise gezwungen, sich die angebotenen Figuren selbst zum Leben zu erwecken. Diese Erweckung geschieht nun an einem fiktionalen Autor und bringt somit die übliche Rollenverteilung der Literar aus den Fugen.

"Kunstlicht" ist ein spannender Roman über die Irrlichter zwischen den Ebenen von Fiktion und Realitäts-Eigentum. Wie in einem Psychokrimi fließen die Koordinaten des Bezugssystems auseinander und weiten den Raum auf für einen Literaturbegriff, mit dem nun wirklich alles möglich ist.

Joost Zwagerman: Kunstlicht. Roman. A.d.Niederl. von Martina den Hertog-Vogt. (Orig.: Chaos en Rumoer; 1997)

Wien: Picus 2002. 315 Seiten. EUR 18,90.

ISBN 3-85452-457-9

Joost Zwagerman, geb. 1963, lebt in Amsterdam.

Helmuth Schönauer 29/09/02