O Patèra

Die erste Frage beim Lesen einer Novelle lautet: Wo ist der Falke? Der Falke ist nach gängiger Meinung der Germanisten der sogenannte Höhepunkt einer Novelle. Eigentlich könnte man es heutzutage Plot nennen, aber da man in der Germanistik naturgemäß nur deutsche Wörter verwenden darf, muß man nach dem Falken suchen.

In eine für die Tiroler Gewöhnlichkeit konstruierte Familie tritt der Falke zweimal als Schicksal auf. Einmal, als der Sohn Sebastian von der Europabrücke springt, und ein andermal, als der Vater einfach abgehauen ist. Diese beiden Ungeheuerlichkeiten hinterlassen bei Tochter Susanne die gnadenlose Frage nach dem Warum. Um dieses Rätsel zu lösen, gibt sie sich als Sebastian aus und folgt seinen letzten Spuren. Und diese führen auf den Berg Athos.

Im klösterlichen Ambiente ist Zeit für etwas religiöse Entspannung. Fasten, Kutten und romantische Gedichte lassen tatsächlich der doppelgeschlechtlichen Heldin die Tränen über die Backen fließen. Aber es kommt noch dicker, ein Insasse entpuppt sich als der verschollene Vater und zwingt die Heldin zu dem titelstiftenden Ausruf: O Patèra!

Eine Novelle soll ja ruhig ablaufen, deshalb soll ja nichts Entscheidendes passieren, wenn es dann noch eine Spur ruhiger wird, nennt man es Bildungsnovelle.

In Monica Wittibs Athos-Geschichte entsteht ein gewisser Reiz durch die aufwühlenden Themen Vaterverlust, Kindheitstrauma und Suizid des Bruders, die Auflösung dieser Themen geschieht durch Kontemplation und Einfachheit. An manchen Stellen ist diese Einfachheit allerdings übertrieben, weil dem Leser immer erzählt wird, wie einfach es jetzt wird.

Und dann ist da noch die Sache mit der Glaubwürdigkeit. Gotteserfahrung ist wie Bergsteigen. Wer hinauf kommt, hat ein Glücksgefühl, aber wenn er darüber zu erzählen anfängt, wird es für den im Tal gebliebenen "goofig". Das ist auch die Schwierigkeit beim Lesen dieser Novelle, man nimmt sie als Erlebnisbericht wahr, steigt aber bei den transzendenten Schüben zwischen kalter Linsensuppe und Knäckebrot dann doch aus. Aber vielleicht ist gerade der Ausstieg aus der Glaubwürdigkeit der Geschichte die eigentliche Erbauung. So gesehen wäre diese Novelle stark erbaulich.

Monica Wittib: O Patèra oder der Abschied vom Athos. Novelle.

Innsbruck: Berenkamp 2002. 108 Seiten. € 16,50.

ISBN 3-85093-142-0

Monica Wittib, geb.1951, lebt in Innsbruck.

Helmuth Schönauer 31/07/02