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Literarisches Tool 2004-01

Kernspaltungsbügelbrett – eine Skulptur von Alois Schild

Aus der unsterblich aufregenden Geschichte der Schule wissen wir, daß es zu jenen Dingen, die offiziell als Unterricht ablaufen, im Untergrund eine eigene Geschichte gibt, die viel interessanter ist. Gut läßt sich diese These am Geodreieck demonstrieren. - Das echte Geodreieck wird übrigens in Wörgl hergestellt und ist daher patriotisch gesehen von unschätzbarem Wert.

Also die Lehrer meinen, daß man mit dem Geodreieck etwas zeichnet oder unterstreicht. In Wirklichkeit braucht der Schüler das Geodreieck jedoch als Waffe, um dem Banknachbarn in den Hintern zu stechen, oder er verwendet es als Spielgerät, um auf der Tischfläche Sommereishockey zu spielen oder gar noch zu "pfitschigogaln", wenn er in einem Mundartlexikon über ausgestorbene Begriffe dieses Wort entdeckt hat und sich freut, weil es lustig und leicht anal klingt.

Was hat nun diese Geschichte vom wahren Einsatz des Geodreiecks mit Alois Schild zu tun?

Na, genau das, was das Geodreieck macht. Alois Schild erzählt für die offizielle Welt eine reine Geschichte mit Skulpturen, Schweißnähten, Fundamenten und Oxydationsausbrüchen. Und in Wirklichkeit erzählt er auch eine ganz andere Geschichte, das heißt, der Betrachter erzählt sie sich im Untergrund, während er mit ruhigem Oberkörper aufmerksam wie ein Schüler auf die Skulptur blickt.

Für das Zünden der Untergrundgeschichte wählt Alois Schild oft sogenannte Initial-Zündungs-Begriffe. Fast alle seiner Skulpturen haben einen Roman als Aura um sich gespannt, freilich ist dieser Roman auf einen einzigen Begriff zusammengestaucht, damit er richtig zündet.

Kernspaltungsbügelbrett ist so ein Begriff, im Volksmund würde man ihn geil nennen, weil er jede Menge Gefühle und Gedanken auslöst.

Wie bei einem Geodreieck empfiehlt es sich, die Skulptur mit dem Namen Kernspaltungsbügelbrett anzuschauen und anzugreifen und sich dabei im rechten Winkel etwas zu denken.

Die vier Kernelemente des Werktitels sind zwar in einer gewissen Bedeutung angeordnet, wie eben auf einer Slot-Maschine die Symbole in einer gewissen Reihenfolge zu stehen kommen, aber der Begriff ist durchaus dynamisch und läßt unendlich viele Bedeutungen zu.

In Katastrophenfilmen etwa sieht man eine Frau am Bügelbrett bügeln, sie schaut "hollywoodig" in die Kamera, da gibt es im Hintergrund die Katastrophe, eine eingespielte Kernspaltung im Film, und vorne verglüht die Frau samt Bügelbrett vor der Kamera.

In einem anderen Zugang zur Skulptur stellt sich der Betrachter die letzte Stromrechnung vor und überlegt, wie viel Strom er generell fürs Bügeln ausgibt. Auf einer guten Stromrechnung ist nämlich immer auch ausgewiesen, wie viel davon aus Kernenergie stammt. So kommt der Betrachter ins Sinnieren, wie das ist mit dem Widerstand gegen die Atomenergie und dem Bügeln mit Kernenergie. Vielleicht sollte ich weniger bügeln und mehr Wasser auf das Hemd spritzen, wenn ich bügle, damit der Anteil der Wasserkraft steigt?

Natürlich denken bei einem guten Skulpturenbetrachter gewisse Hirnteile ständig ans Essen, man sieht steirische Kürbisfrauen Kürbiskerne aus aufgeschlagenen Fruchtschädeln schlagen und mit einer schmatzenden Bewegung die Kerne herausholen. Kürbisse sind die letzten Pflanzengeräte, die noch Kerne haben, alle anderen Obste und Gemüsen sind mittlerweile niedergebügelt und kernlos gemacht.

Als Betrachter geht man ein paar Schritte um die Skulptur herum und findet einen neuen Zugang. Das Bügelbrett ist nämlich das beliebteste Gerät des Tirolers, ständig wird darauf die Meinung niedergebügelt, weshalb die Tiroler die Menschen mit den glattesten und niedergebügeltsten Gedanken am Kontinent sind. Also körperlich sind sie runzelig, wurzelig und schroff, aber geistig ganz glatt mit politisch exakt abgebügelter Gedankenleiste.

Und wie oft muß an Orten mit kleinen Erlebniseinheiten jemand zum Chef und wird niedergebügelt, bis er die letzten Kerne im Hirn ausspuckt, damit das Leben glatt weiter gehen kann!Hier schlägt dann die Kernkompetenz des Chefs täglich zu.

Soweit ein paar Untergrundgeschichten, die sich die Betrachter still erzählen, während sie offiziell die Skulptur anschauen.

Alois Schilds "Kernspaltungsbügelbrett" läßt sich übrigens wie alle seine Skulpturen kaum fotografieren, weshalb man gezwungenermaßen selbst das Original aufsuchen muß und sich nur bedingt auf Kataloge und Erzählungen verlassen kann.

Die aufgestellte Darstellung oszilliert mit der aktuellen Umgebung, sie reagiert schwer sensibel auf den Untergrund, und ist in geradezu erregender Weise zeit- und ortsgebunden.

Es lohnt sich, die Skulptur heute noch anzuschauen, denn morgen hat sie sich schon verändert, wie übrigens wir Betrachter uns vielleicht auch verändert haben.

Das nämlich ist das geradezu Sensationelle an den Werken Alois Schilds, daß sich in ihrer Aura Betrachter bei der Betrachtung verändern! Denn üblicherweise verändert sich der Tiroler ein Leben lang nie, wenn er ohne jegliche Skulptur auf das bloße Loch schaut, das Tirol genannt wird.

Helmuth Schönauer 11/01/04