Literarisches Tool 2003-02

Bedeckung der Realität durch Tatbestand

Offensichtlich ist alles wirklich, was jemand für Realität hält. Also gerade Künstler sehen sich selbst gerne mitten in einem gigantischen Schaffensprozeß, der aber von niemandem sonst als solcher zu erkennen ist. Unvergeßlich ist uns allen der grandiose Oskar Werner, wie er in einer Weise übergeschnappt ist, daß er es beinahe selbst schon gemerkt hat. Dabei hat er bloß verkündet, in Innsbruck die umfangreichsten und tiefsten Festspiele des Universums zu installieren. Gleich anschließend kippte er wieder vom Mikrophon weg und war in jeder Hinsicht off records.

In kleinerer Form treffen wir ständig auf diese Oskar Werners, Künstler, die es der Stadt, dem Land oder dem Kontinent noch einmal zeigen werden.

Wer kann die Weltfestivals in Gummi-City zählen, die da Tag für Tag in melancholischen Köpfen herumgeschleppt werden? Nobelpreisträger für Literatur kommen in eine Zwergstadt und prägen eine Münze, ein NASA-Lyriker baut nach Luftbildunterlagen eine alte Erzader ab, ein dichtender Sandinist bäckt in einem alten Backhaus Dinkelbrot und nennt es Lichtgedicht. - Und den Tirolern werden schon noch die Augen über gehen!

Na ja, und dann gibt es so etwas wie den Tatbestand der Realität, also etwas, was für alle stattfindet. Tag für Tag erhebt sich dieses witzige Land mit seinen interessanten Bewohnern aus dem Morgengrauen. Und während die Künstler und Festivalkonzipienten noch die Träume vom Vortag ausschlafen, wecken sich die tapferen Tiroler selbst, weil das genug ist.

Also gerade die Literatur verschwindet immer dann, wenn es ein Festival gibt, denn sie besteht ja ausschließlich aus Fiktion, die im Text festgemacht ist. Stülpt man nun dieser Literatur noch ein Sackl der Feierlichkeit drüber, erstickt sie wie Delinquenten, die von der österreichischen Polizei liebenswürdig verhört werden, indem man ihnen ein Sackl überstülpt zur bewußteren Atmung.

Die träumenden Oskar Werners heben gegen Abend noch einen, beschimpfen letztlich alle, die nicht so recht auf ihre Realität aufspringen wollen, und verdämmern dann ziemlich erbärmlich. Wenn die Geschichte ganz schlimm ausgeht, dann wirft man ihre Bodies am Mühlauer Friedhof zwischen Trakl und Zangerle der Unsterblichkeit vor.

Helmuth Schönauer 20/01/03