literarisches Tool 2002-12

Abwehr von Erinnerungsritualen

An manchen Tagen hat man als Rezensent ein mezzo-entspanntes Gefühl, wenn man ein Buch gelesen und mit professioneller Grundfreude abgearbeitet hat. Und an besonderen Tagen kann man ein Buch abwehren, noch ehe es entstanden ist, wahrscheinlich ist dieser Abwehrkampf eine partisanisch edle Form von Glück.

Die klassische Abwehrgeschichte eines ungünstigen Romans beginnt mit der Abwehr des Erinnerungsplots. Meistens hat darin eine Dichterin von ihrer Großmutter ein Buch geschenkt bekommen, darin ist mit Handschrift etwas hineingeschrieben und ein Name. Dieser Name gehört einer Jüdin, und ihre Spur verliert sich während der Nazi-Herrschaft.

Die Dichterin hat im ersten Erinnerungsreflex den Erinnerungsexperten Erich Hackl angerufen und ihm diesen Erinnerungsplot erzählt. Erich Hackl erinnert sich so stark, daß sich seine Romane zusammenrollen vor Dichte, noch während er sie schreibt. Und auch die Leser können mit diesen erinnerungskonvexen Romanen kaum etwas anfangen, außer daß sie das Gefühl haben: "Meingott! Was für ein ehrfurchtsgebietender Text!" Erich Hackl also sagt, daß der Stoff durchaus das Zeug für Ehrfurcht hat. Die Dichterin will demnächst loslegen, und erwischt aus einem zu Glück verklumpten Zufall jenen Rezensenten, der ihr ziemlich stark abrät.

Er begründet die Abratungen so:

# Alle mit dem menschlichen Hirn denkbaren Kombinationen über Schuld und Sühne während und nach der Nazi-Herrschaft sind zumindest in der von der Germanistik kontrollierbaren Schreibzone längst ausgereizt.

# Jeder Roman mit diesem Plot ist eine Doublette.

# Warum soll man eine Doublette schreiben und als Literatur ausgeben, obwohl es unendlich viel Stoff ohne Doublettengefahr gibt?

# Es werden mehr Bücher mit einer Inschrift verschenkt als es lesende Menschen gibt, folglich wird es immer verschenkte Inschriften geben, die nicht in einem Roman münden.

# Jeder Mensch hat die Aufgabe, eines Tages zu verschwinden und sich aufzulösen bis hin zur kollektiven Nullachse der Erinnerung. Daher ist das Verlöschen ungefähr so ein interessantes Thema wie das Vorhandensein einer regelmäßigen Atmung.

# Umgekehrt, das wäre ein Thema: Ein Mensch verschwindet nicht! Das ist Stoff.

# Die Religion ist das nächste klassische Unthema. Warum soll jemand ein Buch lesen, worin jemand katholisch, evangelisch oder jüdisch ist, dieser Religionszustand aber überhaupt nicht thematisiert wird? Also jüdisch würde hier zu einer semantischen Nullinformation führen wie ein blaues Auto, das von einem Eisenbahnbenützer nicht wahrgenommen wird.

# Was bewegt eine Dichterin, ständig den Stoff hinter der Kehrmaschine zu suchen und nicht vorne. Also schreiben hat ja auch etwas mit zusammenkehren zu tun. Warum muß ich mich als textkontaminierter Leser mit einer Geschichte auseinandersetzen, die völlig im Vakuum sitzt und durch nichts mit mir verbunden ist? Thermoskannenliteratur, wird dieser Zustand genannt, der generell in einen verinnerlichten Kreisverkehr mit fünf Spiegelbildern seiner selbst mündet.

Na ja, die Dichterin hat zumindest versprochen, nicht bald ans Werk zugehen. Zu befürchten ist freilich, daß Erich Hackl bei ihr anruft und den Erinnerungsroman einfordert. Als ob es nicht ausreichte, daß er selber schon den ganzen Kontinent mit seiner Erinnerungskraft einrollt.

Nicht die Erinnerung soll abgewehrt werden sondern das Erinnerungsritual! Genau. Diese Begründung wird hoffentlich dieses Romanprojekt zum Verschwinden bringen.

Helmuth Schönauer 07/11/02