literarisches Tool 2002-06
Die ritualisierte Sehnsucht nach Lyrik
Lyrik ist das, was entweder im Schriftbild auffallend disparat gesetzt wird, so daß es schon fast einer Graphik gleicht. Lyrik ist oft das, was sich in einer ungereimten Welt reimt. Nicht schlecht ist ja die Fügung "sich einen Reim drauf machen". Und Lyrik ist im Vortrag das, wo man den Speichel der Vortragenden mit hört. "Zur Speichelprobe antreten!" kann also nicht nur im polizeitechnischen Bereich heißen, daß man zu einer DNA-Analyse muß, um die Aufklärung eines Kriminalfalles voran zu bringen, es kann für einen Dichter auch schlicht bedeuten, daß er etwas Lyrisches vorlesen soll.
Die Zeiten sind immer gleich gut oder schlecht für die Lyrik, und es gibt auch Lyriker wie Sand am Meer.
Oft wird gejammert, daß Lyrik zuwenig gut "geht", aber eigentlich ist immer genug Lyrik da in den Buchhandlungen und Bibliotheken. Vielleicht sollte man noch den Tipp ausgeben, daß man Gedichtbände einfach in einem Zug durchlesen soll, eine schöne Abendbeschäftigung gewissermaßen, und fast mit Einschlafgarantie. (Kaum jemand kann nicht einschlafen, weil er zuvor Lyrik gelesen hat.)
In Tirol ist momentan die Lyriksehnsucht besonders stark ausgeprägt.
Der Lyrikpreis der Stadt Meran war ursprünglich als Pendant zu Pferderennen gedacht, die einen sollten ihren Spaß mit den Pferden haben, die anderen mit den Dichtern. Und deshalb wird der Preis auch wie ein Pferderennen abgeführt. Der Höhepunkt heuer war ein Handy, das während einer Gedicht-Zelebration los gegangen ist, sehr zum Ärger der Jury. Die Jury hatte auch allen Grund, über das Handy erbost zu sein, schließlich ging es um die knifflige Frage, wie kann ich dem einzigen Südtiroler den Preis geben, ohne daß es nach Heimvorteil ausschaut. Da es in der Lyrik keine Gesetzmäßigkeiten gibt und die Jury, wenn sie klug ist, das Blabla kurz und als solches erkennbar hält, war auch die Entscheidung der klugen Jury lyrisch-logisch. Man gab dem Südtiroler einfach einen gleichrangigen Sieger an die Seite, und schon schaute es nicht mehr so nach Patriotismus aus. Die Sehnsucht der Lyrikmacher nach einem patriotischen Sieger konnte also erfüllt werden. - Große Befriedigung allenthalben.
Gleich anschließend machte sich die Lyriktruppe auf den Weg nach Innsbruck, um das diesjährige sogenannte Wochenendgespräch abzuführen. Diese Wochenendgespräche hatten einmal durchaus einen Sinn, als sie zu Zeiten der kalten Blöcke eine rare Begegnungsform zwischen Dichtern des Westens, der Neutralität und des Ostens darstellten. Mittlerweile weiß kein Mensch, wer wen einladen soll und warum, und auch das Thema heuer war schon sehr mau: "Jetzt Gedichte schreiben!" Das erinnert ein wenig an die Kampagne einer heimischen Reifenhandlung, wonach es zweimal im Jahr Zeit ist, jetzt die Reifen zu wechseln. Teilnehmer geben auch ziemlich offen und immer noch etwas gelähmt zu, daß es ziemlich fad und uninteressant war, was da alles zum "Gedicht jetzt" verzapft wurde. Aber bemerkenswert ist die Sehnsucht der Wochenendbetreiber, die Lyrik ins Gespräch zu bringen. Wahrscheinlich geht es ohnehin nur darum, zu sagen: "Ich möchte eigentlich über Gedichte reden!" Die Ausführung sollte man dann aber lieber unterlassen, um die Sehnsucht nicht hin zu machen.
Und der dritte Lyrikcoup geschah dieser Tage, als die Kuratin des Großen Tiroler Literaturstipendiums zwei Lyriker als Sieger promotete. Die beiden Lyriker sind übrigens ok, und die Entscheidung geht in Ordnung. Nach der Theorie der Nullinformation müßte man allerdings fragen, welche Literatur nicht für förderungswürdig erachtet worden ist. Also keinesfalls eine interessante, eine politische, eine ironische! Ausgezeichnet wurde in erster Linie die Sehnsucht der Gesellschaft nach Lyrik. Und das heißt, Ausstieg aus der Zeit und dem Land, aus dem Tagesstreß, aus der allgemeinen Tagesverfassung.
Gute Dichter werden sich diese Lyriksehnsucht der Gesellschaft gerne zu Herzen nehmen und dementsprechend ausgestiegen, transzendent und wohlmeinend zukunftsträchtig schreiben. Für Lyrik sind die Zeiten nämlich immer gut, nur wissen es Dichter und Leser oft zu wenig.
Helmuth Schönauer 02/06/02