Literarisches Tool 2003-01
Sehnsuchtsbedarf
Nichts sitzt so nahe am Knochenmark der wahren Gefühle wie das Weihnachtsgeschäft. In der Mischung aus schlechtem Gewissen, Sehnsucht nach hinten und nach vorne, Pflege verschollener Familienrituale und Stallorder in der Krippen-Box entwickelt sich ein Konsumverkehr, der über die wirkliche Verfassung unserer Gesellschaft recht gut Auskunft gibt.
Eine Analyse des Weihnachtsgeschäftes gibt immer auch recht gut über den gerade aktuellen Sehnsuchtsbedarf Auskunft.
Weihnachten und Konsum haben übrigens die gleichen Auswirkungen, kaum sind sie vorbei, hinterlassen sie ein schales, ausgeronnenes Gefühl.
Aber aus dem aktuellen Weihnachtsrummel müssen unendlich viele Bücher übrig geblieben sein. Während der Einzelhandel 8% minus ausweist und die Händler wie jedes Jahr auf das erbärmlichste jammern, gab es beim Buchhandel 3% plus.
Irgendwo sind Bücher einfach verläßliche und mittlerweile auch erschwingliche Glücksvermittler. Zum Preis überlege man nur folgenden Vergleich:
1928 erschienen in Deutschland 27.794 Bücher, heutzutage sind es circa achtzigtausend neue Titel pro Saison. Bücher kosteten damals vier bis fünf Euro, ein qualifizierter Angestellter verdiente 175 Euro. Heute rechnen wir einen Angestellten mit 1750 Euro Verdienst, das Buch mit zwanzig Euro.
Ob die Bücher nun alle gelesen werden, ist eine andere Frage, mindestens jedes zweite Buch wird ja gekauft, damit es gleich wieder verschenkt werden kann.
Aber selbst wenn es nur darum geht, daß jemand glaubt, mit einem Buch so etwas wie das Gute verschenken zu können, ist das ja nach dem Boom der digitalisierten Erlebnisse eine erstaunliche Rückkehr zum haptischen und analogen Glücksgefühl.
Ein gutes Buch verströmt nämlich das erste Glück über den Tastsinn, wie echte Buchmacher wissen, ein Buch ist immer auch ein Greiferlebnis.
Und dann kommt sicher noch der zunehmende Glaube der Gesellschaft hinzu, daß Fiktionen etwas bewirken, was unser Leben erträglich macht, wenn nicht gar schlicht verbessert.
Dieser generell zunehmende Glaube an die Fiktion erklärt auch, warum im gleichen Ausmaß, wie die Lust auf Bücher zunimmt, die Lust auf Wallfahrten zunimmt.
Wallfahrten haben im letzten Jahr stark zugenommen, das ist die andere Seite der Sehnsucht. Es muß also nicht immer nur um Aufklärung gehen, wenn Bücher boomen.
Helmuth Schönauer 30/12/02