Das Mädchen, das die Streichhölzer zu sehr liebte

Der Roman präsentiert sich dem Leser in zwei Blöcken, einmal geht es bis zur Hälfte um das Entdecken der Sprache und dann um das Verwalten derselben durch das eigenen Leben. Die Ich-Erzählerin entdeckt etwa gegen Mitte des Romans, daß sie ein Mädchen ist, und das wird ihr auch erst klar, als dies der Inspektor behauptet und sich in sie verliebt. Die Geschichte spielt nämlich auf einem von der Umwelt abgeschirmten Gut. Papa ist fetzreich aber sonderbar, er kommandiert seine zwei Kinder der Einfachheit halber als Söhne, jeden Tg wird einer der beiden als Protokollführer eingeteilt, um die Zeit zu verwalten. Der Roman setzt an jener Stelle ein, wo es unerwarteterweise keine Befehlsasgabe gibt, weil sich Papa erhängt hat. Nach längeren Beratungen macht sich der eine der beiden "Söhne" auf ins nächste Dorf, um einen Sarg zu organisieren. Zu diesem Zweck nimmt er "Pferd" mit, der die Sprache am Hof versteht. Statt mit einem Sarg kehrt "er" als Mädchen zurück und muß sich erst in der neuen Geschlechterrolle zurechtfinden. Allmählich wird allen Beteiligten klar, daß es nicht nur eine geschlechtsspezifische Sprache sondern auch das entsprechende Geschlechtssleben dazu gibt. Monatsblutungen, Vergewaltigung, Schwangerschaft und Entbindung sind nicht nur Begriffe aus den Wörterbüchern, sondern entwickeln ein eigenes Leben, wenn eine Frau Trägerin dieser Begriffe wird. Wie in einem guten Bildungsroman löst sich am Schluß alles in Explosionen und Bränden auf, während es für die Erzählerin Zeit wird, "niederzukommen". Gaétan Soucys Roman ist ein spannender Ritt durch die Pubertät und das diffuse Reich der geschlechstspezifischen Slalomkurse. In der Hülle eines "negativen Mädchenromans" entwickelt sich die Erzählerin zu einer sprachkompetenten Frau, die jeder "Heidi" das Fürchten lehrt. Ohne daß sie Wittgenstein studiert haben müßte, erfährt die Leserschaft alles, was es mit dem Meinen und Bedeuten der Begriffe auf sich hat. Schließlich spricht der Roman die Einladung aus, die persönliche Biographie und Sprachkompetenz des eigenen Schicksals zu reflektieren. Und das alles in einer lustig-feurigen Art, als hätte Pippi Langstrumpf soeben einen Lehrstuhl für Kommunikation angesägt.

Gaétan Soucy: Das Mädchen, das die Streichhölzer zu sehr liebte. Roman. A. d. Französ. von Natalie Freund-Giesbert. [La petite fille qui amait trop les allumettes]. Wien: Picus Verlag 2001. 165 Seiten. 263,- ATS. € 18,90. ISBN 3-85452-447-1

Gaétan Soucy, geb. 1958, lebt in Montréal.

Helmuth Schönauer 21/07/01