Die Große Kunst

Wie es im Leben und in freier Wildbahn das große und das kleine Geschäft gibt, spielen Kinder bei Bedarf die kleine Schwerkraft oder die Große Kunst. Die Große Kunst ist etwas Ernstes, das an Regentagen die Schwerkraft aufhebt, so daß die Kinder zwischen Tisch und Boden zu schweben vermögen, ohne sich das Genick zu brechen. (11)

Sibylle Severus erzählt in dreizehn Schritten von der Fähigkeit der Sprache, durch ernsthaft spielerische Anwendung ständig neue Zustände zu erschaffen. So geht manches Sprachspiel zurück in die Vergangenheit, wo ein magisch verklärter Vater ständig vom Krieg heimkehrt und es trotz Wiederholung der Heimkehrübung nicht schafft, heimzukehren.

Eine andere Art der Vergangenheit evoziert ein Cello, das sich eines Tages am Dachboden selbständig macht und samt der Doppelfigur Franziska sich beim Selbstentdecken auch sprachlich entdecken läßt. Sobald das Cello ausgepackt ist, hat sich die ausgepackte Begebenheit auch schon wieder aufgehoben.

Eine dritte typische Art der sprachlichen Generierung von Wirklichkeit ist die Situation einer Jury. Warum geht ein Text durch und schafft den Sprung in die Realität der Literatur und ein anderer nicht? Was geht im Inneren eines Jurorenhirnes vor, das letztlich nichts anders im Sinn hat, als die eigene Vorstellung auf die vorgelegten Texte zu projizieren?

Auch die weiteren Spielanleitungen für das Zusammentreffen von Sprache und Realität sind unterhaltsam und mit dem Biß des Abenteuers zu lesen. Ein Erker wird zu einem Minikino für persönliche Erinnerungsbilder. Geburtstage sind nicht nur zum Anstechen von Torten da, sondern um das Leben anzuzapfen. Eine Mauer kann zwei Abschnitte der Erlebniskonsistenz abtrennen, sie kann aber auch völlig sinnlos in der Gegend stehen und hinten und vorne herrscht der gleiche Zustand. Ein Komponist bestellt den Text für ein Requiem und bringt das Autoren-Ich in Verlegenheit.

So verschieden auch die jeweiligen Ansätze sind, letztlich schließen sich alle Elemente zu einer Umkreisung des einen Themas zusammen: Wie verändert sich die Welt, während von ihr erzählt wird?

Sibylle Severus: Die Große Kunst. Erzählung in dreizehn Schritten.

Innsbruck: Skarabaeus 2002. 109 Seiten. € 14,00.

ISBN 3-7082-3100-7

Sibylle Severus, geb. 1937 in Oberbayern, lebt in Zürich.

Helmuth Schönauer 04/04/02