Schaber, Engadin

TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 644

Sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit

Eine Gegend, zu der der größte Essayist des vergangenen Jahrhunderts einen Satz hat fallen lassen, ist automatisch steil und groß und hoch. "Kennen Sie den Inn, meine Liebe? […] Das Engad-Inn?" heißt es in Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften".

Folglich ist die beste Erfindung des Engadin der Inn, eine 510 Kilometer lange Wasserwurst, die sich aus dem Engadin befreit und in Innsbruck einen seltsamen Höhepunkt erfährt, könnte man patriotisch formulieren.

Die Autorin hat sich in langen Wanderungen durch das schluchtenreiche Engadin geschlängelt, die Natur lässt sich ohnehin nur in poetischen Chiffren darstellen, und auch die so genannte Kulturlandschaft und insbesondere die einmalige Art, Häuser als Antwort auf die Umgebung zu bauen, vertragen bei ihrer Beschreibung höchste Töne.

Immer wieder sind Künstler in die extreme Landschaft gezogen, um extreme Lebensabschnitte auszukosten. Am berühmtesten ist sicher der Aufenthalt Friedrich Nietzsches in Sils-Maria, wobei bis heute noch unklar ist, ob die Gegend den Wahnsinn ausgelöst hat, oder der latente Wahnsinn erst durch die Landschaft so richtig zum Ausbruch gekommen ist.

Einen Wahnsinn der anderen Art stellen die vielen Grandhotels dar, in denen stilvoll Morbidität mit Noblesse verbunden wird. Der Hauptort St. Moritz hat sogar so etwas wie einen Moritzener Weltstil entwickelt.

Jede Menge Maler und Bildhauer, unter ihnen so Kaliber wie die Giacomettis, haben wesentliche Impulse aus der Kultur des Engadin geschöpft.

Aber selbst so etwas Triviales wie ein Verkehrsmittel, kann in einer erregenden Landschaft zu einem herausstechenden Ereignis werden. Die Rhätische Bahn hat auf den ersten Blick die Dimensionen einer Spielzeugbahn, aber eine Fahrt mit ihr führt zu gewaltigen Eindrücken in Echtzeit und Echt-Größe.

Susanne Schaber hat eine bemerkenswerte Landschaft mit philosophischem Augenzwingern und zurückgenommenem Erlebnisstil beschrieben. Und das wichtigste: nach der Lektüre entsteht große Lust, diese einzigartige Gegend in eigener Weise zu durchstreifen mit Aussicht auf einen Höhenflug des Erlebens.

Susanne Schaber: Sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit. Engadiner Höhenflüge.

Wien: Picus 2003. ( = Picus Lesereisen). 132 Seiten. € 13,90. ISBN 3-85452-768-3

Susanne Schaber, geb. 1961 in Innsbruck, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 13/03/03