Seufert / Stoltenberg

GEGENWARTSLITERATUR 1232

Elbe, Alster, Jungfernstieg

Ursprünglich waren Landgänge die kulturellen, gastronomischen und sexuellen Ausflüge der Matrosen, wenn sie für kurze ihr Schiff verlassen konnten. Aber mittlerweile sind die Landgänge höchstens noch eine literarische Chiffre, wie die Autoren selbst zugeben. Auf Anhieb gelang es ihnen nicht, lebende Matrosen in Hamburg zu finden, sie mußten diese erst von einem Schiff abheueren, um dann mit ihnen einen Tagesausflug durch die Hamburger Ober- und Unterstadt hinzukriegen.

Mit Unterstadt ist das Sielwerk gemeint, ein weit ausgelegtes Kanalssystem, das sich mit Booten befahren läßt und durchaus ein Wien ebenbürtiger Schauplatz für den Dritten Mann hätte sein können, zumindest was die Architektur betrifft.

Auf der Oberwelt gibt es den wohl seltsamsten Bahnhof des Kontinents, der Bahnhof am Dammtor wurde seinerzeit in einer Nachtschicht aufgeschüttet, um Prominenten ein ordentliches Absteigen zu ermöglichen. Dazu paßt das Luxushotel Vier Jahreszeiten, worin selbst ein hohes Tier schon mal auf einen Geschlechtsverkehr verzichten muß, wenn das Ansehen des Hauses auf dem Spiel steht.

Auf den Landgängen werden nicht nur Naturschutzgebiete, Radwege und landschaftlich urbane Besonderheiten vorgestellt, es treten auch Persönlichkeiten kurz ans Tageslicht, die etwas vom freien Geist der Hansestadt verbreiten.

So erzählt ein Reeder, wie er zur richtigen Zeit ein Schnäppchen gejagt und in Gestalt zweier Schiffe erlegt hat, ein Richter dokumentiert Fälle, in denen es um Strenge und Freiheit der Entscheidung geht, und ein besonders von Persönlichkeiten geprägtes Kapitel widmet sich der Hamburger Literaturszene.

Da hat etwa der Verleger Gerd Bucerius eine tolle Villa als Literaturhaus gespendet, Wolfgang Borchert wird als größter literarischer Sohn der Stadt immer noch gespielt, Siegfried Lenz ist in jedem Lesebuch für das Denken und Handeln im Hamburger Ambiente zuständig.

Aber auch die Etablierung von Grossisten, die den Zwischenhandel für Bücher besorgen, ist eine Hamburger Erfindung und geht auf Georg Lingenbrink zurück.

"Hamburger Landgänge" sind ein wichtiger Beitrag für Leser, die den Stadtplan bereits im Kopf haben, aber die Stadt mit Fleisch und Flair erleben möchten.

Michael Seufert / Annemarie Stoltenberg: Elbe, Alster, Jungfernstieg. Hamburger Landgänge.

Wien: Picus 2002. (= Picus Lesreisen). 131 Seiten. € 13,90.

ISBN 3-85452-762-4

Michael Seufert, geb. 1943, ist freier Journalist; Annemarie Stoltenberg, geb. 1957, ist freie Journalistin.

Helmuth Schönauer 30/12/02