Kaufer, Alltag Kaufmann

GEGENWARTSLITERATUR (609)

Alltag eines reisenden Kaufmanns im Mittelalter

Kluge Romane haben auf einer einzigen Textspur verschiedene Bedeutungsschichten übereinander gelegt und überlassen es dem Leser, bis zu welcher Erlebnis- und Informationsschicht er vordringen will.

Unter dem unscheinbaren Titel "Alltag eines reisenden Kaufmanns im Mittelalter" verbergen sich mindestens ein Krimi, ein historischer Wende-Roman, ein Text über die Wurzeln des abendländischen Handels, ein Entwurf über Europa und eine sogenannte Alltagsgeschichte, die mit einem Augenkniff in eine Heiligengeschichte transpiriert.

Protagonist ist der Kaufmann Pietro Bernardone, dessen Lieblingstour von Assisi nach Saint Gilles am Rhone-Delta führt, wo er jeweils den Jahresbedarf an Stoffen einkauft.

Der aus heutiger Sicht so triviale Beruf des Kaufmanns ist um die damalige Zeit etwas vom Wichtigsten und Attraktivsten schlechthin. Der Kaufmann ist Journalist, Diplomat, Spion, Geograph, Reiseleiter, Spediteur, Banker und Anlagenberater in einem. Der Kaufmann ist das berittene Internet und die mobile Bank.

Anhand dieses Kaufmanns erfährt der Leser beiläufig, wie Handel funktioniert, warum Zinsen auch am Sonntag anfallen, wie die Kirche Geld braucht, aber nicht damit erwischt werden will, und warum Kirchen die ersten Banktresore sind.

Aber auch die Bemerkungen zum Alltagsleben haben es in sich, so gibt es eine erschütternde Szene, wo eine Frau wie Vieh an einen Mann verschachert wird und sie noch dazu nickt, denn der Körper der Frau gehört dem Mann.

Das Einkommen wird in Fruchterträgen angegeben, und wenn man heute die Größe eines Feldes mit der PS-Zahl des Traktors mißt, so wurde damals die Größe in Körben der zu erwartenden Ernte angegeben.

Für Geruchsspezialisten a la Patrick Süskind’s Parfum gibt es eine Schiffsfahrt, die allein schon wegen der Wegbeschreibungen von und zur Latrine dem Passagier und Leser unvergeßlich bleiben wird.

Über dem Schicksal des Kaufmanns schwebt natürlich die große Weltgeschichte, die zuweilen in permanenten Städtekriegen zwischen Siena und Florenz ihre blutigen Ausläufer zu den gewöhnlichen Menschen schickt.

Im Roman gibt es auch einige Skizzen, die die Größe eines Projektes jeweils der Geographie und dem Zeitmaß von Tagesritten gegenüberstellen.

Und allmählich schimmert ein neuer Erzählstrang aus der Geschichte. In dieser Welt, die der Leser allmählich kennenlernt, wächst als Sohn des Kaufmanns ein gewisser Franziskus heran, der mit seinem Lebensprogramm der Kirche noch allerhand zum Auflösen geben wird.

Raffiniert an diesem Roman ist auch die Behutsamkeit, mit der der Leser in die Geschehnisse eingeführt wird. Nicht nur, daß der Leser von sich aus einsieht, daß es eine Veränderung der Zustände brauchen wird, ist er mit Stoff bereits genügend aufmunitioniert, daß er dieses Anliegen auch selber vertreten könnte.

In Erich Kaufers Roman steckt die Mühe des Unterfanges, Geschichte zu erzählen, wie eine unsichtbare Datei in den einzelnen Absätzen. Was man als Leser wie Lokalkolorit nach dem Muster von Spionageromanen verschlingt, ist in Wirklichkeit Zeile für Zeile, Kastell für Kastell, Ort für Ort genau recherchiert.

Das ist der Punkt, wo die guten Romane stark werden. Wie bei Thomas Pynchon, dem Nonplusultra der Romantheorie, ist dem "Kaufmann-Roman" ein eigener Kosmos untergelegt, den man als Leser erahnen, recherchieren, dechiffrieren und mit Supplementen ausstatten kann, ohne daß die Lektüre darunter litte oder man gar aufgeben müßte.

Was bei Thomas Pynchon geheime Postzeichen, Spionage-Tracks und die Flugbahnen von Raketen sind, sind in Erich Kaufers Roman die Gesichtszüge der Geschichte, ihre Berechenbarkeit und das Dechiffrieren einzelner Geschichten aus dem historischen Soundtrack der Vergangenheit.

Nach einem Einleitungskommentar über den Erzählstoff überwindet der Autor stracks sich selbst und seinen Beruf als Wirtschaftsprofessor. Seine scheinbar "low-fiktionale" Geschichte wird sofort literarisch und fiktional und läßt den Leser endgültig fiebrig werden, denn man ahnt, daß dieser Roman am Ende komplett wahr ist.

Erich Kaufer: Alltag eines reisenden Kaufmanns im Mittelalter.

Innsbruck: StudienVerlag 2002. 221 Seiten. € 19,00.

ISBN 3-7065-1773-6

Erich Kaufer lebt in Innsbruck.

Helmuth Schönauer 25/02/03