GEGENWARTSLITERATUR 1206

Meldungen über Gespenster

Es gibt einige Gründe, warum man sich gerade als Österreichischer Leser mit der Literatur Litauens beschäftigen sollte, wenn der Rummel der Frankfurter Buchmesse schwerpunktmäßig schon längst abgeklungen ist.

Einmal ist es die Kleinheit des Landes und reziprok dazu die Größe für Phantasie. Zum anderen ist es das Katholische, das in wilder Unbarmherzigkeit geradezu dazu zwingt, etwas anderes zu denken, als man mit den Händen betet. Und drittens ist es die zum Teil ähnliche Erfahrung mit der Geschichte, die in beiden Ländern als Verdrängungsmodell ungeahnten Auftrieb hat.

Die größte Unterscheidung sollte man hier auch gleich anführen. Das Litauische ist eine kleine, archaische Sprache, die ähnlich dem Gälischen fast von sich aus zum Dichten einlädt, das Österreichische ist eine einzige Abweichung und also immer etwas Bürokratisches, und vielleicht deshalb Literarisches.

Cornelius Hell hat lange Zeit in Vilnius gelebt, Litauisch gelernt, viele Kontakte geknüpft und wichtige Texte übersetzt. Seine Sammlung von Erzählungen aus Litauen sind historisch und sprachkundlich gut einbegleitet, die Anordnung ist chronologisch und rückt von der Gegenwart (8 Texte), über Exil (3), Sowjetzeit (5), Zwischenkriegs- und Zarenzeit mit je zwei Texten.

Diese Einteilung der Zeit ist auch das thematische Gefäß für die litauische Literatur, der Titel der Sammlung stammt aus der gleichnamigen Geschichte Ricardas Gavelis, worin das Spitzelsystem ins Gespenstische verlagert wird. Neben der Verlagerung ins Groteske bestand in der Sowjetzeit nur noch dann die Möglichkeit der Publikation, wenn die Geschichten ins Archaische verlagert wurden. Das Stieropfer von Romualdas Granauskas ist so eine Geschichte, in der die Natur an Land steigt und seltsame Priester seltsamen Naturgöttern opfern und dabei singen und sprachschöpfen, daß sich die Bäume biegen.

Die Texte aus der Gegenwart handeln von alltäglichen Dingen in einer zu kleinen Stadt, von der Heimatlosigkeit einer Repatriantin, dem kalten Feuer, an dem ein Kind auf der Flucht erfriert, seltsamen Papieren eines beim illegalen Grenzübertritt zu Tode gekommenen Unbekannten oder einem übergeschnappten Halbgott der Staatsanwaltschaft.

Mit dieser Textsammlung erfährt man jedenfalls eine Menge über dieses wunderwuzzige Litauen, das in unseren Breitengraden in der Hauptsache als Zulieferant von LKW-Fahrern und Masseusen bekannt ist.

Cornelius Hell (Hrsg.): Meldungen über Gespenster. Erzählungen aus Litauen.

Salzburg: Otto Müller Verl. 2002. 272 Seiten. € 18,-.

ISBN 3-7013-1053-X

Cornelius Hell, geb. 1956 in Salzburg, lebte jahrelang in Vilnius.

Helmuth Schönauer 10/11/02