Witterungen

Witterungen sind ein guter Titel für jene Stimmungen, Niederschläge oder Glanzstunden, die sich im Gedankenwetter eines aufmerksamen Beobachters abspielen. Der Originaltitel "Lettrines" bezieht sich auf schöne Schnörksel in edlen Handschriften. In beiden Fällen geht es um die Geduld erfordernde Kunst, durch Genauigkeit das scheinbar Selbstverständliche herauszufordern und auf eine ästhetische Ebene zu transponieren. Museen, Landschaften, Theaterstücke, Städte sind die bevorzugten Themen eines subtilen Journales, das im Original 1967 erschienen ist. Viele Zitate sperren daher magisch einen Raum aus längst vergangener Zeit auf, denn die Beobachtungen sind nicht für das Tagesfeuilleton geplant, sondern sollen so etwas wie große Denkschleifen im Verlaufe eines Lebens dokumentieren. Zwingenderweise handelt eine zentrale Frage immer wieder davon, was beim Wieder-Lesen eines lebens-entscheidenden Werkes passiert. Die Verblüffung taucht immer mitten im Gedanken auf. So heißt es etwa recht sinnlich: "Es gibt Hügel, die ganz von selbst Lärchenberg getauft werden, aber dieser eine unter ihnen wirkte, als wäre er von jeher dazu geschaffen, ‘cote 304’ zu heißen." (146) Aber auch schöne Sterbesätze haben es immer in sich: "Und ich mag auch den Ausspruch, mit dem Thoureau auf seinem Sterbebett seinen Freunden antwortete, die ihn über das kommende Leben unterrichteten (und man kann sich die keineswegs heftige, aber immerhin ein wenig abwinkende Geste des Sterbenden vorstellen): ‘Nur eine Welt auf einmal!’"(42) Beeindruckend ist der große Blick durch die Zeiten und Kulturen, Sprachgrenzen sind ein Fremdwort für Julien Gracq, er ist beeindruckend selbstverständlich überall dort zu Hause, wo die Literatur ist.

Julien Gracq: Witterungen. [Lettrines]. A.d.Französ. von Dieter Hornig. Graz: Droschl Verl. 2001. 159 Seiten. 337,- ATS. € 24,54. ISBN 3-85420-575-9

Julien Gracq, geb. 1910, gilt als der große Einzelgänger der französischen Literatur.

Helmuth Schönauer 13/12/01