Fiebig, normalzeit

TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 628

normalzeit

Normalzeit ist auf den ersten Blick etwas so Normales, daß man erst zusammenzuckt, wenn man mit diesem Begriff länger konfrontiert wird. Und immerhin schaut diese "normalzeit" permanent und attraktiv vom Buchcover des neuen Gedichtbandes von Gerald Fiebig.

In der Augsburger Gegend, erklärt der Autor bald zu Beginn (S.6), wird daraus eine "Norm-Mahlzeit". Dieser Menschenschlag hält seine Sinneslust mit Essensnachschub am köcheln und gleichzeitig kämpft er diese nieder und befriedigt sie.

Dieses Niederkämpfen alltäglicher Eindrücke ist ein wesentliches Merkmal der Fiebigschen Lyrik. Als Musiker und Hör-Designer ist er vertraut mit der akustischen Ungenauigkeit, die alle Geräusche und Musiken begleitet. Und auch die Bilder und Szenerien sind immer auch mit einer Unschärfe hinterlegt, die quasi von Zeile zu Zeile nachjustiert werden muß, wie man etwa das Präparat unter einem Mikroskop öfters verschiebt, ehe alles scharf und sichtbar ist. Diese Methode des Nachjustierens läßt sich gut an einem scheinbar simplen "mittwoch" zeigen, die Abläufe sind genormt und scheinbar klar, aber genauso genommen ist alles unklar.

"bitte arbeiten sie bis 14 uhr schriftlich / den unterschied heraus zwischen uns & / den anderen." welchen unterschied. welche / anderen. wieder ein typischer montag. (47)

Selbst Wörter können sich nicht entscheiden, was sie letztlich sein wollen, "die schwaeine liegen festgefroren am see" (43) Selbstverständlich ist beides möglich, elegante Schwäne und fette Schweine, die Verknüpfung der beiden läßt eine wichtige Requisite für eine Winteroper entstehen.

Die Hauptthemen sind in fetter Schrift in den Textablauf eingetragen:

# ruhiges hinterland # erwerbsbiographien # stadt karten

Ironisch ist diesen lyrischen Clustern jeweils eine Tafel aus einem Geflügeltryptichon vorangestellt, Geflügel bedeutet hier neben Federvieh von Engeln auch Material von Flügelaltären.

Die drei Themen kann man wie einen Flügelaltar ablesen und sehend abarbeiten. Dem "ruhigen hinterland" - zumeist bestehend aus devastiertem Gelände, aufgelassenen Bahngrundstücken oder einfach Partikeln für einen starken Heimatroman - stehen die "stadt karten" gegenüber, Flächen, die vorgeben, einen Sinn zu haben oder einem kurzfristig gewollten Design entsprungen zu sein.

Und in der Mitte dieses Flügelaltars voller Normalzeit sind sogenannte Erwerbsbiographien eingespielt, Stellenbeschreibung, Rechenzentrum, oder eben einfach öde Fläche an einem Arbeitstag.

Natur, Kartographierung und Oberflächennutzung bestimmen die Gesellschaft, in der sich Abermillionen unauffällige Erlebnispixels versammeln und wieder zerstreuen.

Die einzelnen Gedichte halten sich vorerst an eine konventionelle Sprache, wie wir sie aus Chroniken oder kleinen Newsletters kennen. Durch die lyrische Verstrophung - meist sind es impulsive Zweizeiler, dann wieder auch glatt gebürstete Vierzeiler und manchmal verklumpt der Text zu einem schweren Block - entfalten diese Alltagsnachrichten einen lyrischen Sound. Die Texte sind mit Andockstellen für Musikalität ausgestattet, und aus den weit schweifenden Klimmzügen der Augäpfel entspringt auf jeden Fall eine Ballade der Normalität.

Der Hinterhof entwickelt sich zusehends zum Zentrum, das Nürnberger Reichsparteitagsgelände, scheinbar ungenutzt, mutiert plötzlich zum idealen Naherholungsgebiet. Überhaupt kippt der Nutzen ständig in Abfall, aus dem mühsam konstruierten Sinn fällt mit einer kleinen Drehung des Satzes die pure Absurdität.

Die Gedichte sind höchst speedy gearbeitet, oft werden Konsumgüter und Zitate schnell aneinander gereiht in der Hoffnung, daß die Unsinnigkeit der einzelnen Partikel dann doch noch einen höheren Gesellschaftssinn ergibt.

Gerald Fiebigs "normalzeit" ist natürlich höchst außergewöhnlich, seine Lyrik ist spannend, unterhaltend und verständlich, und das ist alles andere als normal.

Gerald Fiebig: normalzeit. Gedichte.

Innsbruck: Skarabaeus 2002. 113 Seiten. € 14,-.

ISBN 3-7082-3113-9

Gerald Fiebig, geb. 1973, lebt in Augsburg.

Helmuth Schönauer 07/03/03