Stammesgeheimnisse

Wenn Ethnologen von unbekannten Stämmen berichten, wird die Welt bald einmal aufregend und dschungelhaft peripher. Carl Djerassi, Chemieprofessor und Erfinder der Pille, berichtet in seinen beiden Romanen "Cantors Dilemma" (1989) und "Das Bourbaki Gambit" (1993) von seltsamen Ritualen und Stammesfehden aus der Welt der Wissenschaft. Beide Romane sind jetzt leicht überarbeitet unter dem vielsagenden Titel "Stammesgeheimnisse" wieder aufgelegt. Djerassis Erzähl-Credo lautet, daß die wahren Wissenschaftsdiskussionen im fiktionalen Raum wie etwa Theater oder Roman geführt werden müssen, denn Tabellen mit Forschungsergebnissen und Meßdaten reichen für einen ethisch fundierten Diskurs nicht aus. Und Wissenschaft muß ohnehin immer auch unter dem Aspekt der Ethik diskutiert werden, denn sonst verkommt sie zu einer grobkörnigen Meteorologie mit selbstgemachtem Wetter in einem der Welt entrückten Wetterhäuschen. Science-in-Fiction ist daher die passende Literaturgattung, um einerseits Wissenschaft zu diskutieren und andererseits ihre Ergebnisse als außenstehender Normalmensch halbwegs zu begreifen.

In "Cantors Dilemma" erhalten zwei befreundet-feindliche Forscher den Nobelpreis. Sie reisen getrennt nach Stockholm zur Preisverleihung an, und bis zum Schluß ist nicht klar, ob sie einander nicht noch mit diversen Enthüllungen in die Pfanne hauen, denn Ruhm und Dünkel gehen einher wie Schraube und Dübel. Der Roman erzählt vom seltsamen Treiben der Wissenschaftler. Konkurrenzneid, wissenschaftliches Ranking, permanente Selbstzweifel stehen im Mittelpunkt. Als Angehörige des Stammes der Wissenschaftler pflegen die Universitätsmitglieder diverse Rituale, es beginnt bei der Auswahl der Uni, steigert sich in seltsamen Betreuungswahn der Doktoranden und endet im Wettstreit der einzelnen Unis, deren Professoren wie Kampfhähne übereinander herfallen. Zwischendurch gibt es intellektuell verbrämte Erotik, handwerklich gesehen mäßigen Sex, und so nebenher musische Hobbies wie exegetisches Aufführen von Haydn-Streichquartetten. Tatsächlich lassen sich mit den Mitteln der Ethnologie recht gut die einzelnen Stämme der Wissenschaften beschreiben, und der Autor führt die Diskussionen seiner Figuren immer zur entscheidenden Frage: Was vermögen wir zu erkennen, wenn wir nicht einmal unsere Selbstspiele erkennen?

Im zweiten Roman "Das Bourbaki Gambit" versucht ein Wissenschaftler die ultimative Forschung, indem er wie ein Fußballmanager vier hoch begabte Forscher aus aller Welt zum Bourbaki-Gambit zusammenkauft. Unter Bourbaki fungierte 1934 eine französische Mathematiker-Gruppe, die sich um eine streng logische und konzeptionell kohärente Darstellung der Grundstrukturen der Mathematik bemühte. (224) In einer Versuchsanordnung bestehend aus hervorragenden Einzelforschern soll in Djerassis Roman die Entschlüsselung der biologischen Geheimnisse spielerisch gelingen. Die Idee fußt abermals auf stammesähnlichen Ritualen. Wenn ich die richtigen Forschertypen zu einer kritischen Masse zusammenschweiße, entsteht vielleicht im wissenschaftlichen Bereich etwas, was Goethe in seinen Wahlverwandtschaften vom erotischen Bereich zusammen geklont hat. Federführend ist in dieser menschlichen Versuchsanordnung ein gewisser Sepp aus Innsbruck, ein Genie, das umso literarischer wirkt, je mehr es mit Innsbrucker Accessoires ausgestattet wird. Und der japanische Experte hat sich eigentlich schon aufs Altenteil und die Lyrik zurück gezogen, als er kontaktiert wird. Nicht umsonst hängt er an einem kleinen, altersweisen japanischen Text. "Die Welt - / nenn sie ein Abbild / in einem Spiegel - / sie ist nicht real, / irreal auch nicht." (265)

Stammesgeheimnisse lesen sich spannend, sind ein frohes intellektuelles Vergnügen, und es bleibt der angenehme Eindruck, daß das Erzählvehikel Science-in-Fiction auch über die angesprochenen Themen hinaus äußerst tragfähig ist. Djerassis Botschaft besteht in einem weit gespannten Erzählkonstrukt, das als großer Entwurf der wissenschaftlichen Welt entspricht.

Carl Djerassi: Stammesgeheimnisse. Cantors Dilemma. Das Bourbaki Gambit. Zwei Romane aus der Welt der Wissenschaft. A.d.Amerikan. von Ursula-Maria Mössner.

Innsbruck: Haymon 2002. 415 Seiten. 19,90 EUR.

ISBN 3-85218-391-X

Carl Djerassi, geb. 1923 in Wien, lebt in Kalifornien.

Helmuth Schönauer 01/05/02