Bt-28
[Edle Wohlstandsbibliothek]
[...]
Natürlich hat er auch gestern ein Buch mitgebracht, wie immer eine Erstausgabe. Ich bin sein letzter Kunde, sagte Edmund. Außer an Edmund verkauft er an niemanden mehr, seit er das Geschäft in der Breiten Straße geschlossen hat. Auch das Buch, das Edmund gestern mitgebracht hat, sah gar nicht aus wie ein Buch, sondern wie etwas, in dem man etwas Kostbares aufbewahrt, Schmuck zum Beispiel. Edmund streichelte die Bücher, die er von Mr. Yingling brachte, wie Susi ihre Kätzchen. Da fühl mal, dieses Maroquin, quergenarbt, fühlst du’s. Und da, diese florale Bordüre, goldgeprägt, Schnucke, und das ist der erste Druck der ersten Ausgabe, die in wenigen Exemplaren für Goethe selbst hergestellt wurde. Auf Velinpapier. Und heißt ... Er drehte ihr den Buchrücken zu. Lies! Sie las: Goethe West-Oestlichr Divan. Und las ihr gleich volltönend vor:
Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!
Und geschrieben für eine Marianne, die vierunddreißig Jahre jünger war als er.
Und wie immer am Freitag bestieg Edmund, als er das Buch lange genug liebkost hatte, die riesige und auf riesigen Messingrollen fahrbare Mahagonileiter, setzte sich oben auf der Plattform auf die lederbezogene Bank, fing noch einmal an zu blättern und zu lesen und schob dann die Neuerwerbung feierlich zärtlich da hin, wo sie hingehörte.
Aus: Martin Walser, Der Lebenslauf der Liebe, S.14
[Kurzrezension]
Der Eindruck der sozialen Oberfläche erinnert an gepflegte Tatort-Serien, wo Menschen bei gedämpfter Musik und wattierter Geldtasche ihre Seelen-Lage durch einen Mord verändern. Alles ist eigentlich nur dazu da, den Kommissar zu blenden und von der Aufklärung abzulenken. Ungefähr so lebt zu Beginn des "Liebes-Romans" die Heldin Susi Gern. Im gepflegten Düsseldorfer Wohlstandsambiente legt sie ihr Leben wie einen Auszählreim an: Sie liebt, heiratet und stockt mitten im Leben, denn sie will ihren Mann auf eine seltsam vollkommene Art. Und so verordnet sie sich etwas, was Alexander Kluge die gedehnte Gegenwart nennen würde, sie hört auf, seine Frau zu sein. Aber zur Trennung reicht die Ernüchterung nicht aus. "Es beginnt die Suche nach einem, den sie ganz haben kann. Das wird der Lebenslauf der Liebe. Ein behindertes Kind, ein Mann, der zuerst sehr reich ist, dann ruiniert, dann krank, dann tot –, und Susi, in ihrer durch keine Erfahrung belehrbaren Sehnsucht nach reiner, das heißt vollkommener, das heißt gegenseitiger Liebe. Die Unbelehrbarkeit ihres Gefühls ist ihre Kraft, eine jeden Ruhms würdige Lebenskraft." Der Roman ist breit angelegt, ein schweres Alterswerk, möchte man sagen und denkt sofort an die verzopften Liebesverknotungen beim späten Adalbert Stifter. Auch bei Martin Walser geht es auf jeder Seite ein paar Mal in die Breite und ins Detail, aber das ist Teil des Erzähl-Konzeptes. Denn die Liebe läßt sich nicht mit klaren Augen oder Sätzen fassen, sie schweift immer wieder ab in die Kleinigkeit, manchmal vielleicht sogar Banalität. Aber bei dieser erhöhten Lebensaufmerksamkeit, den der Lebenslauf der Liebe eben erfordert, sind diese Kleinigkeiten und minimalistischen Erlebnisstrukturen oft Teil des großen Gefühls, auf der Suche nach der authentischen Liebe gibt es im Prinzip nur das Cinemascope als angemessenes Format, wenn eine Kopfdrehung dreißig Meter ausfaßt etwa, um anschließend das Zucken einer Lippe zu dokumentieren. Eine reife Leistung für reife Leser, könnte man salopp formulieren, aber der Roman vermittelt letztlich auch ein "echtes Gefühl" für etwas, was es genau so auch außerhalb der Fiktion in Echt gibt.
Martin Walser: Der Lebenslauf der Liebe. Roman. Frankfurt/M: Suhrkamp 2001. 524 Seiten. € 25,46. ISBN 3-518-41270-1
Martin Walser, geb. 1927 in Wasserburg , lebt in Nußdorf.
Helmuth Schönauer 31/12/01