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Bücherei im Sanatorium

Meine Abende hier sind herrlich ruhig. Ich sitze oft am Kamin unten im großen Salon. Er ist zusammen mit dem blauen Eßraum das einzige Zimmer im ganzen Gebäude, das nicht weiß ist. An den Wänden stehen Bücherregale mit schön eingebundenen Büchern, aber allesamt nur Schundliteratur. Als könnte man geistig angeschlagen oder traumatisch berührten Patienten, wie wir genannt werden, keine anspruchsvolle Literatur zumuten. Der Raum gilt als Leseraum. Es gibt auch noch einen Fernsehraum, aber ich bevorzuge diesen, weil hier ruhig und leise gesprochen wird, und man sieht immer dieselben Gesichter. Wir sollen uns untereinander näher kommen, was ich kein bißchen anstrebe. Ich möchte mit niemandem etwas zu tun haben und versuche zu vermeiden, daß ich angesprochen werde.

Aus:

Cecily von Hundt, Von Pilzen und anderen Menschen. Seite 18

 

[Kurzrezension]

Manche Bücher will man als Leser ständig schräg halten, als könnte sonst der Inhalt ausrinnen vor Ironie. Cecily von Hundts Erzählung ist von dieser schräg-ironischen Art, man nimmt die Sätze wörtlich und fühlt sich wohltuend sanft auf den Arm genommen, man liest die Geschichte pragmatisch verschränkt, und wird plötzlich in eine scheinbar klare Wirklichkeit entführt. Eine junge Frau kommt wie tausend andere in der Literaturgeschichte in ein Sanatorium, um ihre Kindheits- und Jugendjahre Revue passieren zu lassen. Die Ärzte sind ziemlich ratlos und gerieren sich als Hilfssheriffs der Lebensberatung, wenn ihnen nichts mehr einfällt, empfehlen sie der Patientin, sie möge doch bitte sehr ihre Geschichte aufschreiben. Das tut sie und wird daurch zu einer gnadenlos verrückten Erzählerin, die nahezu alle Stile drauf hat. Da ja nicht klar ist, welcher Erzählstil den Ärzten gefällt oder welcher dem erlebten Leben am besten entspricht, werden vorsichtig verschiedene Erzählmuster ausgetetstet. Der englische Empfindungsroman, die Gothic-Novel, der Schelmenstreich nach dem Muster J.D.Salingers und ein weiblicher Klon des Zöglings Törless werden als mögliche Modelle zur Beschreibung des eigenen Daseins herangezogen, die Erzählerin verknüpft immer wieder die Situation des Schreibens mit der aufgeschriebenen Erinnerung. Der Leser wird mit unzähligen Anspielungen herausgefordert, den Text in seiner eigenen Lesewelt zu verankern. Die Pilze als ein Filter für die Realität, wenn man an diverse Pilzgemische von Alice im Wunderland denkt, die Hauptfigur Emma als Prototyp einer aufgeklärten Frau und schließlich der bedächtige Schnitt von Vorabendserien, der über die erzählte Familienstruktur gelegt ist, ergeben letztlich ein vollkommen authentisches Bild eines Lebensgefühls, das um das klassische Bildungsgut herum Stützpunkte des eigenen Denkens entwickeln muß. Die Klarheit der scheinbar Verrückten tut ein Übriges, um festgefahrene Vorstellungsmuster aus den Angeln zu heben. Mit der Zeit kann der Leser das Buch ruhig wieder gerade halten, es rinnt nicht aus, aber es verströmt fröhliche Ironie, die sich auf die neu entdeckte Wirklichkeit legt.

Cecily von Hundt: Von Pilzen und anderen Menschen. Innsbruck: Skarabaeus 2001. 118 Seiten. 165,- ATS. € 12,00. ISBN 3-7066-2237-8

Cecily von Hundt, geb 1974, lebt in Lauterbach/Bayern.

Helmuth Schönauer 30/10/01