BT-23

[Bibliothek gibt Identität]

Gary Paulsen war siebzehn, als er von zu Hause fortging. Wohin, wußte er nicht, also landete er bei der Armee. Daraufhin mochte er die Menschen noch weniger. Er wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen und arbeitete einige Jahre in einer Elektonikfirma. Eines Tages beschloß er zu schreiben, "obwohl ich ja nie viel gelesen habe und überhaupt keine Ahnung hatte, was es bedeutet, ein Schriftsteller zu sein". Heute weiß Paulsen, daß es eine Bibliothekarin war, die ihm seine Identität gegeben hat. "Eine häßliche Frau, die in meiner Heimatstadt bekannt war, weil sie unverheiratet war und deshalb als unsozial galt. Jeder dachte irgendwie, daß sie ‘ne Schraube locker hat. Sie fragte mich eines Tages, ob ich nicht eine Bibliothekskarte wolle." Er besaß ein Dokument, auf dem sein Name stand. Er fing an zu lesen. Hemingway, Thoreau und Steinbeck.

Aus:

Michael Saur, Hintergrundrauschen. Zu Besuch bei amerikanischen Schriftstellern. Wien, Picus 2001. S. 42-43.

[Kurzrezension]

Der Porträt-Band "Hintergrundrauschen" geht jenem Sound nach, der Schriftsteller umtönt, wenn sie in Interviews über ihr Schreiben reden. Sechzehn Autorinnen und Autoren hat Michael Saur aufgesucht, um nach einem einprägsamen Gespräch subtile Lebensskizzen anzufertigen, die vor allem eines im Sinn haben: den Schreibprogrammen der AutorInnen gerecht zu werden.Selbstverständlich sind die Dichter durch diese Vorgangsweise in ein eigenes Licht gerückt, manche unter ihnen agieren wie die Helden ihrer Bücher, so daß für den Leser stets markante, einzigartige Geschichten von der Bewältigung des Schreiberlebens im Gedächtnis haften bleiben. Paul Auster erzählt, wie sein Leben eigentlich immer schief gelaufen ist, bis es dann doch irgendwie geklappt hat. Für Abraham Rodriguez stellt sich die Frage, ob er außerhalb seines Ghettos überhaupt etwas Substanzielles zu schreiben vermag. Louis Begley ist in der Hauptsache ein erfolgreicher Anwalt, der beim Schreiben einlocht wie andere beim Golf. Frank McCourt hat ein Leben lang an einer einzigen Geschichte geschrieben und sie immer wieder vernichtet, erst als er die Figur eines kleinen Jungen wählte, um die "Asche meiner Mutter" zu erzählen, ist die Geschichte plötzlich für ihn erträglich geworden. David Foster Wallace verbringt den Großteil seines Lebens damit, möglichen Übersetzern auszureden, daß sein Hauptwerk "Infinite Jest" so schwierig und umfangreich sei, daß man es nicht übersetzen könne. Gary Paulsen hält es nirgendwo lange aus und muß daher immer wieder ein Stück segeln, ehe er einen Gedanken fassen kann, auf dem Schiff geht zudem jeder PC nach kurzer Zeit in die Brüche, sodaß er mit der Hand schreiben muß. Jedes dieser Schicksale könnte auf Anhieb verfilmt werden, so heroisch ist es im Porträt angelegt. Aber gerade das ist die hohe Porträt-Kunst Michael Saurs, daß er jedes Leben so "heldenhaft" darzustellen vermag, daß man selbst mit den gescheitertsten Existenzen sofort große Solidarität entwickelt. Als Leser ahnt man, daß man auch selbst ein gewaltiges Schicksal hätte, wenn es Michael Saur bloß endlich aufschriebe.

Michael Saur: Hintergrundrauschen. Zu Besuch bei amerikanischen Schriftstellern. Wien: Picus 2001. 141 Seiten. 263,- ATS. € 19,11. ISBN 3-85452-450-1

Michael Saur, geb. 1967 in München, lebt in New York.

Helmuth Schönauer 15/07/01