BT-31

[Bibliothek als Ersatz für Schlaftabletten]

Mein Vater hatte mir eine riesige Bibliothek hinterlassen, die zwei ganze Zimmer unserer Altwohnung füllte, die Gestelle standen quer zur Wand und waren so schwer, daß die Riemenböden nicht einmal mehr Luft zum Ächzen fanden. Boite-Stylist war mein Vater gewesen, Entwerfer von Uhrgehäusen, in seiner Freizeit jedoch passionierter Leser, ein scheuer und zurückgezogener Mensch.

Andere brauchten Schlaftabletten, ich konnte nachts nicht einschlafen, ohne vorher mindestens eine halbe Stunde zu lesen. Nie hatte ich herausgefunden, welches Leben mein wirkliches war [...]

Aus: Jürg Beeler, Die Liebe, sagte Stradivari; Seite14

 

Kurzrezension

"Ich glaube, du hast mir den Tampon hineingestoßen!" (25) So etwas passiert leicht und gerne, wenn die Künstler den Geschlechtsverkehr unaufmerksam angehen. Der Ich-Erzähler Simon ist Geigenbauer und auf alte Klänge spezialisiert, seine Gattin Marta ist Restauratorin und Malerin und auf das Gestalten von Kirchenwänden aus, wenn ihr nicht gerade die Ehe dazwischenkommt.

Im Sinne einer richtigen Wahlverwandtschaft gibt es dann noch die Geigerin Anne, auf die der Geigenbauer abfährt, und als Theoretiker in Sachen Liebe kommt noch der Schriftsteller Paul ins Spiel, der zufälligerweise gerade ein Buch über die Liebe schreibt.

Es geht drunter und drüber und kreuz und quer, mal sind die Tage musikalisch, dann wieder leer. Die einzelnen Sequenzen kriegen deshalb immer ein recht hohles Worthologramm vorgespannt, etwa derart, daß jemand vor Luftigkeit sich in Transparenz auflöst und fragt, wieviele Seiten ein Laufpaß hat. Am Schluß jedenfalls ist die unaufmerksame Frau mit dem Tampon schwanger, man kann es so kauzig sagen, denn der ganze Roman ist kauzig.

Jürg Beeler hat hoffentlich Plot und Figurenkonstellation nicht ernst gemeint, denn dann wäre es fürchterlich. Als gelerntem Schweizer ist ihm aber zuzutrauen, daß er die Dinge verzopft und pingelig und ungelenk sieht. Also den größten Gewinn zieht man als Leser sicher aus dem Roman, wenn man ihn als Verafterung der Befindlichkeit von Künstlern und ihren Liebschaften liest. Denn dann kriegen die seltsamen Belehrungen immer wieder einen witzigen Sinn und ihr eigenes Fett ab, etwa warum Henry Miller mit seiner Genitalbetrachtung eine tote Hose ist und Gustave Flaubert mit seiner Emma in der Kutsche erotisch aufblüht. Und unter der Annahme größtmöglicher Ironie läßt sich auch das künstlerische Getue der Figuren und ihr permanentes Leid in und um die Ehe lässig ertragen. Wehe aber, man liest den Roman ernst und mit germanistischem Verve, dann wäre er in seinem Kunstgehabe kaum noch ein Genuß. Aber gerade das Zittern um den Roman macht ihn so wertvoll, man sorgt sich um ihn wie um ein hilfloses Kind und bringt ihn letztlich durch, und alles mündet in ein Erfolgserlebnis der Selbsterziehung.

Jürg Beeler: Die Liebe, sagte Stradivari. Roman.

Innsbruck: Haymon 2002. 176 Seiten. € 15,90.

ISBN 3-85218-381-2

Jür Beeler, geb. 1957, lebt in Zürich.

Helmuth Schönauer 15/03/02