Bt-30
Bibliotheksstellen im Text
[Bibliothekar als Serienmörder]
[...]
Borchard besorgte mir eine Stelle in der öffentlichen Bücherei von Hollywood an der Ivar, unmittelbar südlich des Boulevard. Ich hatte die Aufgabe, Bücher einzustellen und alle halbe Stunde aufs Männerklo zu gehen und mich zu räuspern - eine Strategie, die darauf abzielte, homosexuelle Treffs zu vereiteln. Ich bekam einen Dollar fünfundsechzig die Stunde, und die Arbeit war maßgeschneidert für mich - ich ließ den ganzen Tag über Gehirnfilme laufen.
Eines Abends im Juni kam ich aus der Bibliothek nach Hause und traf Onkel Walt dabei an, daß er die Garage an der Rückseite des Hauses aufräumte. Der Abendsonnenschein blinkte auf einer Kollektion von Werkzeugen aus gebürstetem Stahl, die er in Öltuch wickelte. Die Werkzeuge sahen niederträchtig aus - Shroud Shifter würde dergleichen besitzen. "Was ist das?" fragte ich.
Borchard hob ein Ding hoch, das aussah wie ein Skalpell. "Einbruchswerkzeug. Dieses Baby hier ist ein Dietrich und ein Beitel. Mit der flachen Kante hier drückt man das Schloß auf, und die scharfe schiebt man zwischen Tür und Rahmen. Die anderen sind ein Fensterschnapper, ein Drillbohrer und ein Stemmeisen. Der dicke Onkel dahinten ist ein Saugnapf-Glasschneider. Was ist los, Marty? Du siehst mitgenommen aus."
Ich holte tief Luft und stellte mich gleichgültig, indem ich die Achseln zuckte. "Bloß Kopfschmerzen. Wieso sind die Griffe so stark gerieft? Damit man sie besser packen kann?"
Aus:
James Ellroy, Stiller Schrecken. Seite 29
Kurzrezension
‘Silent Terror’ ist wahrlich eine gute Beschreibung für das, was in James Ellroy höchst literarischem Brutalo-Thriller erzählt wird. Der Bibliothekar Martin Plunkett sitzt im Gefängnis und schreibt seine Memoiren. Das Ungewöhnliche daran: er ist ausgewiesener Serienkiller und die Presse wartet schon hart auf seine Facts.
Die Ichform als die authentische Fiktion, Morde am laufenden Band, Trancezustände, Halluzinationen und körperliche Grenzerfahrungen - James Ellroy schreibt an der Grenze des Erzählbaren. Dabei ist der Plot irgendwie seriell wie der Serienkiller. Der Ich-Erzähler kriegt das Ticken im Kopf, fühlt sich wie die Comics-Figur Shroud Shifter aus den Fünfziger Jahren und päng, ist der Mord erledigt. Manchmal gibt eine innere Stimme Anweisungen, dann sind es wieder Farben einer bedrohlichen Psychoskala, die den Kill steuern. Die einzelnen Morde sind ritualisiert, die Waffe wird zu einem sakralen Gegenstand, das Auto, Deathmobil eins und zwei fühlt sich an wie das Papamobil, wenn der Herr stehend auf Mission ist.
Neben geistiger Schärfe als Bibliothekar, wetzt sich Martin Plunkett auch seinen Körper zwischendurch ab, indem er etwa monatelang Gelände für Bauspekulanten rodet mit einer sich selbst schärfenden Axt, die jeden Tag noch schärfer zu werden scheint.
Der spannende Memoirensound wird aufgehellt durch stilisierte Presseberichte, in denen im auf authentisch getrimmten Zeitungsausrissen Fakten, Meinungen von Ermittlungsbeamten oder Interviews mit Hinterbliebenen ziemlich "yellow" zusammengefaßt werden.
Plot, Erzähltechnik, fachliche Kompetenz und psychische Grenzerfahrung sind at the top, James Ellroy setzt wahrlich Maßstäbe, an denen sich eine ganze Literaturgattung messen kann. James Ellroy will nicht nur in Interviews "der beste Krimiautor der Gegenwart" sein, er ist es mit jedem Buch und ‘Silent Terror’ ist ein Meilenstein dieses Erzählprogrammes, das wie ein Ausriß von Realität und Fiktion die Buchregale entlang driftet, makellos aufregend!
James Ellroy: Stiller Schrecken. Kriminalroman. A.d. Amerikan. von Rainer Schmidt. Nachwort von Oliver Huzly. [Silent Terror, 1986].
München: Ullstein Taschenbuchverlag 2002. 278 Seiten. € 8,20. ISBN 3-548-25258-3
James Ellroy, geb. 1948 in Los Angeles, lebt in Connecticut.
Helmuth Schönauer 10/03/02