Literarisches Tool 2003-04
Ausscheidung
In der Morphologie sind jene Gebilde ein Spitzenereignis, die
Verschiedenes ausdrücken und dennoch das Gleiche meinen. Die
Ausscheidung ist so ein Wort, sie drückt im doppelten Sinn etwas
aus, und wenn die Wurst der Ausscheidung ausgedrückt ist, haben
alle eine große Freude.
Die griffigste Ausscheidung des Kontinents findet in Gestalt des
Eurovisions-Contests statt. Und trotz aller Vergänglichkeit der
einzelnen Jahrgänge ist eine Diskussion bemerkenswert: Soll man
es ernst nehmen oder nicht?
Dieses Liebäugeln mit dem Sinn sollte sich auch der
Literaturbetrieb zu Herzen nehmen. Längst gleicht die
öffentliche Schreiberei einem permanenten Contest, und auch hier
ist das Wort Ausscheidung ein voller Treffer. Die Parallelen sind
bis in die kleinste Handbewegung der Protagonisten verblüffend,
das hat mit der öffentlichen Wahrnehmung zu tun. Und wie beim
Song-Contest sollte man immer im Auge behalten, daß die
Glitzersterne nur Wenige, die verglühten Ausscheidungen aber
eine Menge sind. Zu jedem, der auf der Bühne auftritt und eine
intellektuelle Bewegung aus der Hüfte heraus macht, gibt es eine
Wurst voller Ausgeschiedener, die von vorneherein mit der Hüfte
gedacht haben.
In der diesjährigen österreichischen Diskussion geht es wie in
Österreich üblich darum, ob man während einer Verarschung
spüren darf, daß es eine Verarschung ist. Ob Festspiele,
Regierungserklärung oder Schirennen, immer schwingt der
Metakommentar der zerstörten Illusion mit. Die Österreicher
sind generell imstande und bereit, die tägliche Verarschung zu
genießen, eine durchgehende Ausscheidung bei Tag und bei Nacht.
Der Kabarettist Alf Poier hat das Land nicht nur am falschen
Fuß, sondern im Luftsprung erwischt. Nach ein paar Tagen baffen
Reflexes sind die meisten Kommentare links oder rechts gelocht
zur Ablage. Die einen sagen super, daß jemand den Song-Contest
so in Frage stellt und die anderen sagen schade, daß die vielen
konventionellen Strickmuster auf der Strecke geblieben sind.
Einen Überkommentar gibt es von Martin Blumenau auf dem
Kultsender FM-4. Er nennt Alf Poier einen Autisten, der nicht
reflektiert, denn die Reflexion ist in diesem Lande seit Stermann
/ Grissemann von diesem tiefsinnigen Duo für alle Zeiten
besetzt.
Dem kann man beipflichten. Alf Poier hat nicht nur den
Ausscheidungs-Event konterkariert, er ist während der Teilnahme
aus ihm abgehauen, philosophisch könnte man es volle
Transzendenz nennen.
Auch für die Literatur ist diese Poiersche Transzendenz
erstrebenswert und somit ein tolles Tool.
Keine Preise, keine Ausscheidungen, keine Events! - Es hat etwas
Beruhigendes an sich, dass man aus dem Literaturbetrieb
aussteigen kann, ohne die Literatur zu verlieren.
Helmuth Schönauer 20/03/03