Tool 2001-10

Fiktion nach dem Desaster-Day

Nach dem 11. September 2001 steht nichts mehr so wie früher, nicht nur, weil das World-Trade-Center in New York nicht mehr steht, sondern weil auch die Glaubwürdigkeit der Fiktion eingestürzt ist. Bemerkenswert das Bild des in die Tiefe sinkenden Sendemasten, der wie eine negative Rakete dem Boden zu rast, während wir jahrzehntelang die Bilder von Cape Caneveral auswendig gelernt haben, wonach Geschosse in Star-War-Manier aus der progressiven Rampe Amerikas heraus in den Weltraum zu zischen hatten. Jetzt haben die Drehbuchschreiber Hollywoods ihre Krise, das Tool des Schreckens funktioniert nicht mehr anläßlich der Realität. Nun sitzen aber die besten Schriftsteller und Fiktionalisten dieser Welt ebenfalls in Amerika, und ihnen allen gemein ist die Realität, die hinter ihren Geschichten wohnt.

Thomas Pynchon beschreibt beharrlich jenen Zustand, der hinter der Fiktion zutage tritt. Also die Wissenschaft beobachtet die Welt, leitet daraus Gesetze ab, unter anderem das thermodynamische Gesetz, das schwer in Ordnung ist und so etwas wie die Zeit physikalisch in den Griff bekommt. Diese abstrakten Gesetze werden von Agenten auf ihre Tauglichkeit in der Wirklichkeit untersucht, diese Untersuchung gelingt nur über die Erfindung (Fiktion). Anschließend treten die Figuren, Thesen oder Erkenntnisse aus der Fiktion und stellen sich der Realität, die sich als tiefer schwarzer Abgrund erweist. Neben dieser Erzähltheorie, die durchaus in Katastrophensituationen ihre Tauglichkeit beweist, gibt es stets auch Überlegungen, wie Systeme funktionieren und wann sie sich selbst auflösen, oder wie das World-Trade-Center zur Implosion gebracht werden. Als Tool der Erkenntnis bietet sich hier das Untergrundwesen WASTE im Roman "Versteigerung von Lot 49" an, sowie die Palimpsest-Theorie in den "Enden der Parabel".

James Ellroy hat in seinem jüngsten Roman zwar das Attentat auf Kennedy im Auge, die Erkenntnisse von Verschwörung, systematischem Impact und peripherer Investigation lassen sich wie ein Kommentar zur Mythenzerstörung a la World-Trade-Center lesen. Die deutsche Übersetzung "Ein amerikanischer Albtraum" ist quasi zeitgleich zu den Bildern über die Terroranschläge in New York und Washington ausgeliefert worden. Letztlich ist der Roman eine gewaltige Dekonstruktion aller historisierenden Erklärungsversuche, das untersuchte Material ist dermaßen heiß, daß es nur in Stoßsätzen bearbeitet werden kann, der atemlose Erzählstil, manchmal eine Vollveräffung von Hemingway, paßt sich dem erzählten Trümmerfeld an, worunter neben "blood, bloody blood" auch der Glaube an die Fiktion begraben liegt.

David Foster Wallace nennt seinen großen, scheinbar in keine Sprache zu übersetzenden Roman über eine grenzenlos defekte Fiktion "Infinite Jest" (Witz ohne Ende), sinnigerweise heißt das Racheprogramm der amerikanischen Regierung "Infinite Justice" (Witzige Gerechtigkeit, möchte man fast falsch übersetzen). DFWs Roman handelt von einem Film, der so lustig ist, daß das Leben zum Stillstand kommt. Unterhaltungsindustrie, Infotainement und Sinn des Lebens münden in eine unendliche Wiederholung von abgegriffenen Lachmustern, die letztlich tödlich wird. Der Witz als Befreiungsschlag erweist sich als tödlich, wenn er industriell oder gar global eingesetzt wird. Von der Hinterseite der Ironie her gesehen ist "Infinitive Jest" ein brauchbares Tool, den Desaster Day zu verstehen.
So in etwa schreiben amerikanische Schriftsteller, während ihre Mythen gesprengt werden.

Und nun setze man als peripheres Tiroler-Daseins-Agglomerat für einige Augenblicke diesen literarischen Welt-Tools das Programm des lokalen Brenner-Archives entgegen, da kann man nur ausrufen, die haben alle einen Ficker oder Vogel!, was letztlich egal ist.

Helmuth Schönauer 01/10/01