litererisches Tool 2000-12

Carlos als Gedicht

Tools sind Werkzeuge und Hilfsmittel, literarische Tools sind folglich literarische Werkzeuge und literarische Hilfsmittel. Im Lichte dieser Definition könnte eine gute alte Schreibwerkstätte als literarischer Tool-Pool bezeichnet werden. Ein bewährtes Tool ist es zum Beispiel, durch relativ kurze Zeilen das lesende Auge ruhig zu halten wie bei der Betrachtung eines Passbildes. Dieser sogenannte Zöllnerblick erweckt den Eindruck von Aufmerksamkeit, wiewohl es nichts Bemerkenswertes für diese Aufmerksamkeit gibt. Kurze Zeilen werden hauptsächlich in Zeitungen verwendet, wobei man die Faustregel ausgeben könnte, je kürzer die Zeilen, umso trivialer ihr Umgang mit der Wirklichkeit. Leichte lyrische Kost läßt sich jeweils servieren, wenn man das suggerierte Zeilenende mit einem Schrägstrich markiert. Dieses Tool macht aus der trivialsten Nachricht schon das profundeste Gedicht.

Ein tolles Beispiel bietet die "Tiroler Krone" vom 30. November 2000. Hier wird mit Lyrik aufgemacht, das Titelbild zeigt einen durch das Gefängnis schön gewordenen Terroristen Carlos. Das Bild weckt im Leser den Wunsch, ebenso geläutert zu sein wie der ehemalige Terrorist Carlos. Botschaft: Gefängnis tut gut!

Dem Bild ist ein Gedicht beigepackt:

So sieht Terrorist "Carlos" heute aus

Carlos, einst meistgesuchter Ter- / rorist der Welt, trat jetzt im / Prozess um den OPEC-Überfall als / Zeuge auf: Dicklich, elegant geklei- / det, mit dünnem Schnauzbärtchen / und anden Schläfen ergraut prä- / sentierte er sich. Um dann in seiner / Aussage die Richter durch endlose / Monologe zu langweilen und seinen / früheren Komplizen Hans-Joachim Klein schwer zu belasten.

Dieses schöne Gedicht entfaltet seine Aussage erst dann zur Vollkommenheit, wenn man mit einem Tool statt Carlos einen x-beliebigen Politiker seiner eigenen Wahl einsetzt.

[Helmuth Schönauer]